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Bewohnerin der Otto-Suhr-Siedlung„Es ist anonymer geworden“

Manuela Besteck wohnt an einem der ärmsten Orte in Berlin – wegziehen will sie trotzdem nicht. Gegen die drohende Verdrängung organisieren sich die Mieter.

„Wegziehen war für mich nie eine Option“, sagt Manuela Besteck, hier in ihrer Wohnung Foto: Joanna Kosowska
Malene Gürgen
Interview von Malene Gürgen

taz: Frau Besteck, wie lange wohnen Sie schon hier in der Kreuzberger Otto-Suhr-Siedlung?

Manuela Besteck: Das sind jetzt 44 Jahre. Ich bin hier aufgewachsen mit meiner Mutter und meinem Bruder. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich die Wohnung übernommen, ich war ja schon im Mietvertrag.

Wollten Sie mal woanders wohnen?

Nein. Wegziehen war für mich nie eine Option. Die Siedlung ist mein Zuhause. Ich kenne die Leute, heute vielleicht nicht mehr alle, aber mit vielen hier bin ich zusammen aufgewachsen. Ich weiß, viele von denen, die ich sehe, sind der gleiche Jahrgang wie ich. Manchmal denkt man: Ach, alt ist sie geworden, krank vielleicht. Manchmal sieht man auch, dass jemand arm geworden ist, oder arm geblieben. Es hat ja nicht jeder die Möglichkeit, was aus sich zu machen. Aber jedenfalls: Ich hänge an diesen Leuten hier.

Wie hat sich die Siedlung über die vielen Jahre verändert?

Eigentlich ist hier lange vieles gleich geblieben. Aber in den letzten vier, fünf Jahren hat sich doch einiges verändert. Viele sind ausgezogen. Man darf ja auch nicht vergessen, dass sich hier vom Komfort her nichts geändert hat über all die Jahre. Wenn man dann bei Freunden sieht, die haben ein besseres Bad, die haben keine Armaturen, die 45 Jahre alt sind, dann kommt man schon ins Überlegen. Wenn an meinen Armaturen was kaputt geht, muss ich zum Schlesischen Tor fahren, da ist so ein Trödelmarkt, da gibt es noch die Ersatzteile. Sonst nirgends.

Wer ist stattdessen eingezogen?

Erst mal sind die Wohnungen dann neu gemacht worden, auf einmal alles schick. Klar, wenn man neu vermieten kann, lohnt es sich ja. Die neuen Leute, die da jetzt wohnen, die sind auch nett, will ich gar nichts gegen sagen. Aber es ist anonymer geworden. Auch ich grüße jetzt nicht mehr jeden hier im Haus so wie früher. Du versuchst das, machst das ein- oder zweimal, dann gucken sie dich komisch an, und dann lässt du es halt. Da haste kein’ Bock drauf, das musste nicht haben.

Im Interview: Manuela Besteck

Manuela Besteck wurde 1962 in Kreuzberg geboren und zog als Kind mit ihrer Familie von der Görlitzer Straße in die Otto-Suhr-Siedlung. Heute wohnt sie allein in der Wohnung, die sie früher mit ihrer Mutter und ihrem Bruder bewohnt hat. Sie würde gern in eine kleinere Wohnung in der Siedlung wechseln, doch dann bekäme sie einen neuen Mietvertrag und müsste mehr Miete als heute zahlen. Sie ist als Sozialarbeiterin im Bezirk angestellt. (mgu)

Zu den Nachbarn, die hier schon länger wohnen, haben Sie engeren Kontakt?

Klar. Bei meiner Nachbarin, die ist 84, da klingele ich jeden zweiten oder dritten Tag. Abends, bevor ich schlafen gehe, gucke ich immer vom Balkon aus, ob da Licht ist. Das ist auch für mich persönlich: Ich möchte nicht, dass diese Frau ewig in der Wohnung liegt, ich möchte es wissen. Dann kann ich ihre Schwester anrufen, mich kümmern. Ich finde, das geht nicht, wie das manchmal passiert, dass da jemand drei, vier Wochen in seiner Bude liegt, und keiner merkt’s.

Vor zehn Jahren wurde die Siedlung aus dem kommunalen Bestand gelöst und an eine private Wohnungsbaugesellschaft verkauft. Wie haben Sie als Mieterin das bemerkt?

Zehn Jahre haben lang wir eigentlich gar nichts mitbekommen. Die Verwaltung war die alte, ich sag mal, nicht gerade prickelnd, aber normal, man hat ja nicht viel erwartet. Die Siedlung wurde fröhlich immer weiterverkauft, aber wir als Mieter haben das gar nicht gemerkt. Das hat sich dann erst geändert, als plötzlich die Briefe von der Deutschen Wohnen kamen, Ende 2016. Energetische Sanierung, zack, Miet­erhöhung.

Wie viel mehr sollten Sie zahlen?

179 Euro mehr im Monat, von 278 auf 457 Euro kalt für meine Wohnung. Da sagen natürlich viele, ach, so viel ist das dann doch immer noch nicht. Aber darum geht es nicht. Es ist doch auch so, dass hier nichts gemacht wird in dieser Wohnung. Ich habe kein Kachelbad, zum Beispiel, weil ich dann 60 oder 70 Euro mehr zahlen müsste jeden Monat. Ich lasse das jetzt selbst renovieren, auf eigene Kosten, aber nicht für Tausende. Das sehe ich nicht ein, hier Unsummen reinzustecken, und dann muss ich am Ende doch ausziehen. Denn wir haben jetzt gelernt: Das ist nicht deine Wohnung.

War das früher anders?

Ja, das hat sich verändert: Du lebst Jahrzehnte in der Wohnung und hast das Gefühl, das ist deins. Klar, wir wussten immer, das ist keine Eigentumswohnung, aber das Gefühl war trotzdem da. Das hat man jetzt verstanden, dass das nicht deins ist. Einige Mieter haben hier über die Jahre viel Geld in ihre Wohnungen gesteckt, das darfste nicht vergessen. Die sind jetzt bitterlich traurig, dass sie sich das nicht mehr leisten können. Alle hier haben ihre Wohnungen gepflegt, da ist alles pico.

Sind Sie denn mit Ihrer Wohnung zufrieden?

Otto-Suhr-Siedlung

Die Otto-Suhr-Siedlung, dort gelegen, wo Kreuzberg in Mitte übergeht, nördlich der Oranienstraße und westlich des Moritzplatzes, wurde in den 1950er Jahren erbaut und war eine der ersten Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus in Westberlin. Jahrzehntelang im städtischen Besitz, wurde sie 2004 größtenteils an eine private Fondsgesellschaft verkauft und mehrfach weiterveräußert. Seit 2013 ist der Großteil der Siedlung im Besitz der Deutschen Wohnen, des größter Vermieters Berlins. (mgu)

Mein Balkon hier, der ist der absolute Jackpot, im Sommer ist das klasse, biste immer braun. Aber im Winter, da ist die Wohnung kalt, kalt und feucht, da ist das überhaupt nicht toll hier. Ich bin ja sogar bereit, mehr Miete zu zahlen, wenn hier mal was gemacht würde. Aber doch nicht für Fenster und Außendämmung, die wir eigentlich gern wollen. Aber da drüben, in den Häusern, wo das schon gemacht wurde, da schimmelt das. Alles voll, und vorher war da kein einziger Schimmelfleck.

Gegen die drohenden Erhöhungen haben Sie dann vor einem guten Jahr eine Mieterinitiative gegründet. Wie ging das los?

Da hing auf einmal so ein Zettel im Hausflur: Heute Abend Mieterversammlung. Gehste mal hin, dachte ich, obwohl ich da selber noch gar nichts bekommen hatte. Genau an dem Abend, als ich nach Hause kam, hatte ich dann auch die Erhöhung im Briefkasten.

Nee, nee, politisch aktiv war ich immer schon ein bisschen gewesen, schon als Kind
Wohn-Accessoires in Frau Bestecks guter Stube Foto: Joanna Kosowska

Wie haben Sie die erste Versammlung erlebt?

Es war pickepackevoll, aus der ganzen Siedlung, auch viele aus meinem Haus. Es ging dann darum, was wir machen können. Nette Studenten waren auch da, die haben uns auf die Sprünge geholfen, was es für Möglichkeiten gibt. Die hatten schon Erfahrung mit Protesten von Mietern und konnten auch Tipps geben, wie zum Beispiel, dass man Härtefallanträge stellen kann. Das war sehr hilfreich für uns.

Wie ging es seitdem weiter mit der Ini­tiative?

Es gibt jetzt regelmäßige Versammlungen und Aktionen. Wir haben dann auch sehr viel Unterstützung bekommen von Politikern, und viel Presse war auch von Anfang an da. So haben wir zum Beispiel erreicht, dass jetzt hier auch Milieuschutz ist. Das hilft zwar auch kaum gegen die energetischen Sanierungen, aber ich denke mir, damit wird ja nicht Ende sein. Irgendwann kommt die Deutsche Wohnen doch und will die ganze Hütte hier neu machen mit allem Pipapo. Dagegen ist das dann schon ein Schutz.

Sie sind seitdem dabei. Vor allem, um sich gegen die Erhöhung für die eigene Wohnung zu wehren?

Ach, ich persönlich kann schon meine Miete bezahlen, ich kann auch ein bisschen mehr bezahlen, das ist jetzt nicht das Thema. Ich bin Sozialarbeiterin beim Bezirksamt, seit 35 Jahren, ich habe meinen Verdienst dort. Das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist einfach, das die Siedlung sich dann verändert.

Ist die Nachbarschaft durch die Ini­tia­tive zusammengewachsen?

Ja, da gibt es viele, die haben sich vielleicht vorher nur kurz gegrüßt, aber jetzt bleibt man stehen auf der Straße, wenn man sich sieht. Man fragt nach der Gesundheit, so etwas. Wir haben ja auch Aktionen gemacht wie ein Laternenfest zum Beispiel, da haben wir wochenlang für gebastelt, das hat Spaß gemacht. Da sind dann auch alle da von den Mietern bei solchen Aktionen, da stehen die wie ’ne Eins.

Lange Versammlungen, aufgeregte Diskussionen: Politisches Organisieren kann auch anstrengend sein. Wie empfinden Sie das?

Ich sag mal so: Es gibt da schon welche, die müssen immer was sagen auf den Versammlungen, und nicht zu knapp. Ich bin ja Sozialarbeiterin, ich verstehe mehrere Sprachen. Ich verstehe auch die intellektuelle Sprache, aber ich finde, bei so einer ­Mieterversammlung, da muss man so sprechen, dass das alle verstehen. Ansonsten gibt es da schon mal genervte Gesichter, wenn da einer so daher redet. Aber zu den Aktionen kommen dann trotzdem wieder alle.

Initiative BOSS&U

Im November 2016 gab die Deutsche Wohnen den Mietern der Otto-Suhr-Siedlung bekannt, die Häuser energetisch sanieren lassen zu wollen und im Zuge dessen die Mieten um bis zu 40 Prozent anzuheben. Dagegen gründete sich die Initiative BOSS&U, Bündnis Otto-Suhr-Siedlung und Umgebung, die seither mit vielfältigen Aktionen gegen die Mieterhöhungen kämpft. (mgu)

Ist es für Sie das erste Mal, dass Sie politisch aktiv waren?

Nee nee, politisch aktiv war ich immer schon ein bisschen, schon als Kind.

In welcher Form?

In der Schule war ich Schulsprecherin, hab mich immer eingesetzt für die Schüler. Dann bin ich ja in SO36 aufgewachsen, das war immer politisch. Hinten im Max&Moritz war der Saal, in dem wir Schüler uns getroffen haben, da haben wir gegen die Berufsverbote für Lehrer gekämpft, für Afrika, gegen Imperialismus. Wenn du in 36 aufwächst, da kriegst du das gleich mit, da siehst du die Ungerechtigkeit. Früher war das klar, dass man sich dagegen wehrt. Dass alle an einem Strang ziehen. Heute ist das nicht mehr so. Kotti&Co, die sind eine Ausnahme, da sage ich: Hut ab! Die haben auch viel erreicht. Aber insgesamt war früher mehr, gerade auch bei den Jugendlichen.

Es wird heute weniger gekämpft?

Im Moment kämpfen ja die Kreuzberger noch darum, dass sich nicht so viel verändert, und sind dabei sehr zäh. Das finde ich gut, obwohl ich natürlich nicht dagegen bin, dass sich überhaupt etwas verändert. Es muss nicht immer alles gleich bleiben, aber es soll nicht über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden werden.

Gerade gegen die Deutsche Wohnen gibt es aber immer mehr Initiativen in Berlin.

Ja, allerhand gibt es da. Kotti&Co finde ich am tollsten, die trauen sich am meisten. Da gibt es aber auch viele jüngere Leute, die sind natürlich etwas forscher. Wir haben hier viele Ältere, die sind schon etwas vorsichtiger, ängstlicher auch. Und dann ist es ja auch so, dass hier alle Verträge unterschiedlich sind, nicht alle sind in der gleichen Lage, und da wird natürlich auch unterschiedlich entschieden, wie weit man geht.

Vom Hausflur aus kann man hier die neuen Luxuswohnungen sehen, die gleich gegenüber gerade gebaut wurden. Was empfinden Sie dabei?

Ich empfinde das so: Früher war hier die Mauer und hat die Stadt geteilt. Dann ist sie gefallen, Gott sei Dank, aber jetzt wird die Stadt neu geteilt durch die Wohnungsbaupolitik. Wenn du dir das da hinten anschaust, die Neubauten, absolut High Society. Die tolle Luisenstadt, so wird das verkauft. Luisenstadt, also echt, die haben doch ’ne Klatsche. Das war nie was Tolles, Luisenstadt, das war Todesstreifen. Damit haben wir auch gelebt, der Turm war direkt da gegenüber, und wenn du abends nach Hause gekommen bist, hast du kein Licht angemacht im Flur, weil die dann ihre Maschinenpistole gezogen haben, um dich zu erschrecken. Was soll’s, für uns war’s okay, wir hatten unseren Spaß in der Siedlung. Aber kein Schwein wollte hier wohnen. Das ist wie mit Tegel.

Tegel?

Da haben die Leute angekreuzt, der Flughafen soll bleiben, aber nicht weil sie das toll finden mit den Flugzeugen über die Köppe. Sondern weil sie Angst haben vor hohen Mieten. Ist doch klar: Sobald der Flughafen zumacht, gehen da die Mieten hoch.

Die Otto-Suhr-Siedlung gilt als ärmste Siedlung Berlins. Fühlen Sie auch mal so etwas wie Neid beim Blick auf die teuren Wohnungen, die gleich nebenan entstehen?

Ich bin kein neidvoller Mensch. Wenn ich viel Geld hätte, würde ich mir auch eine tolle Wohnung kaufen. Nicht da drüben, nee, ich würde mir eine kaufen, die hoch oben ist, mit einem Blick auf ganz Berlin. Aber wie auch immer, ich denke mir, sollen sie sich da ihre tollen Wohnungen bauen, macht mir nichts. Aber lasst uns doch hier wohnen, weißte. Ich sag immer: Was wollt ihr denn von uns? Die Wohnungen sind uralt, wir halten sie instand, lasst uns doch einfach hier wohnen.

Fühlen Sie sich im Stich gelassen?

Im Moment kämpfen ja die Kreuzberger noch darum, dass sich nicht so viel verändert, und sind dabei sehr zäh. Es muss nicht immer alles gleich bleiben, aber es soll nicht über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden werden

Bei mir geht es ja alles noch. Besonders schlimm ist es für die Leute, die Hartz IV kriegen hier. Die haben kaum eine Chance. Aber zu Hartz IV kann ich eh nur sagen: Da haben sie Scheiße gebaut, die Politiker, richtig große Scheiße. Die kleinen Leute, die haben sie vergessen, das kann man nicht anders sagen. Mir geht es ja noch in Ordnung, aber manchmal ist es schon so, dass ich abends da drüben reinschaue, in die schicken Wohnungen, da kocht dann einer ganz toll, quatscht dabei mit seiner Partnerin, Glas Rotwein dazu. Da denkst du schon, tja, vielleicht hätte ich das auch gern gewollt, aber das war nicht drin, nie. Ist ja nicht viel, was du willst. Aber wenn du dir nicht mal ein Kachelbad leisten kannst, obwohl du arbeiten gehst, weil du dann dein ganzes Leben 80 Euro mehr im Monat zahlen musst, dann denkst du schon, das ist nicht toll.

Die Deutsche Wohnen ist der größte private Wohnungskonzern auf dem deutschen Markt – ein mächtiger Gegner. Ist das einschüchternd?

Nee. Wir müssen einfach auf Zack bleiben, gut ist. Wir kämpfen ja auf ganz vielen Ebenen, und wir haben auch schon ’ne ganze Menge erreicht, gerade für Bauabschnitt 2 und 3. Mit den Härtefallanträgen lässt sich viel erreichen, und auch manche Baumaßnahmen kommen jetzt wohl doch nicht, wie es aussieht.

Mit Ihrem Protest haben Sie viel Aufmerksamkeit bekommen, auch von politischer Seite. Ist auch die Deutsche Wohnen mal persönlich auf Sie zugekommen?

Wir wollten ja einen runden Tisch machen, mit den Politikern und der Deutschen Wohnen. Wir waren acht Leute, super vorbereitet. Wurde leider abgesagt, von deren Seite aus. Na ja, haben sie sich wohl nicht getraut. (lacht)

Sie bekommen Unterstützung von Grünen, Linken und der SPD. Doch bei den letzten Wahlen bekam hier in der Siedlung auch die AfD gute Ergebnisse. Überrascht Sie das?

Das ist nicht schön. Man bekommt schon auch mal so Sprüche mit, gegen Ausländer. Geh mir nicht auf den Keks, sage ich dann, damit musst du mir gar nicht erst kommen, mit so ’nem Mist. Eigentlich glaube ich aber nicht, dass die wirklich was gegen Ausländer haben. Das ist doch Kreuzberg hier. Wir wussten früher vielleicht nicht, wie man „Integration“ buchstabiert, aber man hat immer wunderbar zusammengelebt. Hatte ja auch keiner was, der Deutsche hatte nix, der Ausländer hatte nix, das hat doch zusammengeschweißt.

Auch mit wenig Geld ist nicht alles schlecht?

Ich sag mal so: Ich hab zwölf Jahre in der Potse [linkes Jugendzentrum in Schöneberg; Anm. d. Red.] gearbeitet, da habe ich jeden Dreck gesehen. Da habe ich auch viel Elend gesehen, und Leute, die krumme Dinger drehen. Aber es gibt auch genug feine Herren in Schlips und Kragen, die krumme Dinger drehen, so ist nicht. Ich hab auch zehn Jahre in Lichtenrade gearbeitet, schicker Bezirk, da habe ich auch Sachen gesehen, die waren gar nicht schick. Missbrauch, Drogen, alles gibt es da. In der Potse hat mich die Arbeit weniger Nerven gekostet als dort.

Heute ist auch die Potse von Verdrängung bedroht.

Das ist auch so ein Ding: Früher hätte keiner die Potse angefasst. So weit ist es gekommen, dass die sich das trauen. In Berlin gab es früher so viele Orte, da war der Deckel drauf politisch, die wurden nicht angefasst, weil alle wussten, dann gibt es richtig Rambazamba. Ich sag mal so: Ich war nicht bei denen, die die Steine geschmissen haben, aber dass es die gab, das hat schon auch was gemacht politisch. Da gab es auch Aktionen, die haben mir nicht gefallen, die Nacht, als sie Bolle geplündert haben, zum Beispiel, das war nicht mehr schön. Aber insgesamt war das einfach ’ne andere Stimmung damals.

Ihre Initiative sammelt Unterschriften, besucht die Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung. Fänden Sie radikalere Aktionsformen besser?

Es muss jetzt nicht unbedingt radikaler sein, aber ich finde schon, man könnte doch noch viel mehr Aktionen machen. Alle Mieter hängen jeden Montag um 12 Uhr ein Transparent vom Balkon, zum Beispiel.

44 Jahre sind eine lange Zeit. Würden Sie am liebsten für immer hier wohnen bleiben?

Nee. Ich mach noch die zehn Jahre bis zur Rente, die will ich hier bleiben. Aber dann ist auch mal genug, dann will ich ich raus, ins Umland. Ruhiger, grüner, das brauche ich dann auch mal.

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