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Das war keine Revolution

Aber was dann? Eher eine „Revolutionierung der Lebensstile“, schlägt Michael Prütz vor. Ein Spaziergang mit dem Urgestein der linken Szene Berlins rund um Kurfürsten­damm und Savignyplatz. Auf den Spuren der 68er-Bewegung. 50 Jahre danach

Von Susanne Messmer (Text) und Christian Thiel (Fotos)

Michael Prütz steht vorm Kurfürstendamm-Center im westlichen Teil des Ku‘damms, ein Betonklotz, der Anfang der 1970er verbrochen wurde. Der kleine Mann in Jeans, brauner Lederjacke und schicker Schiebermütze lacht. „Ich hätte es nicht mehr gewusst, dass das hier war.“ Prütz hat gute Laune. Die Idee, einen Spaziergang auf den Spuren der 68er-Bewegung in Berlin zu unternehmen, 50 Jahre danach: Sie gefällt ihm ausnehmend gut.

Er berichtet: Erst vor Kurzem hat er entdeckt, dass auch er vor 50 Jahren öfter hier war. Alte Freunde sind hergezogen. Sie machten ihn auf die Gedenktafel aufmerksam, vor der Prütz jetzt steht. Die Tafel erinnert an das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968. Am Nachmittag dieses Tages erledigte der Studentenführer noch ein paar Dinge im Büro des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), das sich in dem Haus befand, welches später dem Betonklotz weichen musste. Dutschke wollte noch schnell zur Apotheke, Nasentropfen für sein krankes Baby holen. Dann fielen drei Schüsse, an deren Spätfolgen Dutschke neun Jahre später starb. Das Attentat löste die sogenannten Osterunruhen aus – die größten Straßenschlachten, die die BRD bis dahin gesehen hatte.

„Als das Attentat auf Rudi passierte, da hatte ich mich schon ziemlich politisiert“, sagt Michael Prütz, als er vor der Gedenktafel neben einer Bushaltestelle steht. 15 Jahre war Prütz damals alt. Er hatte die Ermordung Benno Ohnesorgs im Sommer 1967 verfolgt, auch die Hetze der Westberliner Presse gegen die Studenten. Prütz kann noch Schlagzeilen zitieren: „Man darf die ganze Drecksarbeit nicht der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen.“ Oder: „Störenfriede ausmerzen.“ Nahezu täglich konnte man von „Politgammlern“, „FU-Chinesen“ oder der „roten SA“ lesen.

Michael Prütz hatte damals begonnen, voller Bewunderung die Flugblattaktionen der Studenten zu beobachten. Er ging jetzt häufiger mit Mitschülern zu einer Tchibo-Filiale in Zehlendorf Kaffee trinken in der Nähe des amerikanischen Hauptquartiers. Er traute sich, den vorbeirollenden Panzern entgegenzurufen: „Amerikaner raus aus Vietnam!“ Und zur ersten Schüler- und Lehrlingsversammlung war er auch schon gegangen. Aber das war nur der Anfang.

Prütz steigt in seinen silbergrauen Mercedes der S-Klasse, Baujahr 1990, „spottbillig zu haben“, wie er meint. Armaturen aus Wurzelholzfurnier, der Ascher steht offen, viele Kippen passen nicht mehr rein. „Camel“, sagt er und kurbelt das Schiebedach auf. „40 Stück am Tag. Seit ich 14 bin.“

Eigentlich ist Michael Prütz kein typischer 68er. Er war zu jung, um bei den Hardlinern mithalten zu können, den Wortführern, die damals in den Zwanzigern waren und heute längst aus dem Berufsleben ausgeschieden sind. Auch hat er später den Marsch durch die Institutionen nie mitgemacht, den so viele antraten. Soll heißen: Viele der Studenten damals kamen aus bürgerlichen Verhältnissen. Nach den wilden Jahren kehrten sie zu dem zurück, was sie von Haus aus kannten. Sie nahmen ihr Studium wieder auf.

Nicht so das Arbeiterkind Prütz. Er ist in einem einfachen Elternhaus aufgewachsen. Sein Vater war ungelernt und schaffte es zum Prokuristen in einer Berliner Baufirma. Seine Mutter war Näherin. „Grobe Leute, empathielos“, sagt er heute über sie. Als er einmal von einer Demo nach Hause kam, die sie ihm verboten hatten, gab es nicht nur die üblichen Backpfeifen. Die Mutter schrie ihn an: „Ficken kannste, mit wem du willst, aber von der Politik lässt du die Pfoten.“

Die Schüler- und Lehrlings- bewegung war stark in Berlin. Sie gilt vielen als Beweis, dass 1968 weit über die Grenzen der Universitäten hinausging

Prütz ging damals auf ein evangelisches Gymnasium, wo die Schüler noch geprügelt und von der Schule verwiesen wurden, wenn sie lange Haare trugen. Zu seiner ersten Versammlung von Schülern und Lehrlingen ging er, weil eine Zeugnisverbrennung ­angekündigt war. „Zeugnisverbrennug?“, lächelt er, „das fand ich einleuchtend.“

Für Michael Prütz stellt 1968 nicht nur eine schöne Erinnerung dar, sondern einen endgültigen Bruch. Einen Bruch, der ihn bis heute prägt und motiviert.

Jahrelang, von 2013 bis 2016 etwa, hat er die Demo am 1. Mai angemeldet und versucht, wieder mit politischen Inhalten zu füllen. 2014 hat er am Mariannenplatz ein Demotraining durchgeführt. Unter anderem, „um Zusammenhalt bei Provokationen zu üben“, wie er erzählt.

Gerade hat Prütz begonnen, an einem Volksbegehren mitzuarbeiten. „Wir wollen die Deutsche Wohnen enteignen“, grinst er verschmitzt. Dann schiebt er ernst hinterher, dass er sich um seine Stadt, um sein Berlin nie solche Sorgen gemacht hat wie heute, in Zeiten der steigenden Mieten.

Wir halten vor der Schaubühne am Lehniner Platz. Direkt hinterm heutigen Theatersaal befand sich das Schüler- und Lehrlingszentrum. Prütz erinnert sich noch gut an die Themen, die auf den Sit-ins und Teach-ins so besprochen wurden. „Wir wurden nicht wie mündige Wesen behandelt.“

Natürlich waren auch der Vietnamkrieg und später der Einmarsch in die Tschechoslowakei wichtige Themen. Aber es ging auch um die einfachsten Dinge, die heute an den Schulen zumindest selbstverständlich sein sollten: aktive Beteiligung der Schüler am Schulgeschehen, Pressefreiheit für Schülerzeitungen, Mitsprache bei der Unterrichtsgestaltung, Sexualaufklärung. „Wir empfanden es als Mittel zur Abrichtung, dass Sex überall zum Tabu erklärt wurde.“

Die Schüler- und Lehrlingsbewegung war stark in Berlin. Sie gilt vielen als Beweis, dass 1968 weit über die Grenzen der Universitäten hinausging.

Doch eigentlich ist Prütz kein nostalgischer Typ. Lieber denkt er nach vorn

Unsere nächste Station an diesem grauen Vormittag ist das Café Kranzler, wo die Studenten 1967 und 1968 oft Flugblätter verteilten. Hier ist der Kurfürstendamm wieder schicker, man sieht Damen in Pelz und auf Pfennigabsätzen, sogar einen rasierten Königspudel – aber auch Bettler auf Krücken, Flaschensammler und Foodora-Fahrer, Rentner in Sandgrau mit Lidl-Tüten. Es gibt wohl kaum eine Ecke in dieser Stadt, wo die Gesellschaft kaltschnäuziger auseinanderdriftet. Wie viel 1968 ist hier noch übrig?

„Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welche Stimmung damals herrschte“, erklärt Prütz, für den man selbst hier, am Ku’damm von heute, noch viel von 1968 spürt. Prütz würde die Bewegung vielleicht eher als Revolutionierung der Lebensstile denn als Revolution bezeichnen. Ohne sie hätte es nie den lang ersehnten Mentalitätswechsel gegeben, der unsere Gegenwart prägt – auch wenn es inzwischen viele Historiker und Soziologen gibt, die das Gegenteil behaupten.

Prütz erzählt: Die Studenten, die vorm Kranzler Flugblätter verteilten, bekamen Schlimmes zu hören: „Geht doch in den Osten!“ Oder: „Euch sollte man vergasen!“ An seiner Schule gab es noch immer Lehrer, die Kinder schlicht und einfach kaputt machen wollten.

Darum ist für ihn 1968 nach wie vor überall präsent. Auch in Zeiten, wo wieder Parteien wie die AfD gewählt werden. Und sei es nur in einer Kleinigkeit wie der, dass gerade gegenüber vorm Kranzler ein Mann in Nadelstreifen einem schlafenden Bettler einen 5-Euro-Schein in den Hut legt.

Es geht gegen Mittag, Zeit für die Dicke Wirtin, einer der Stammkneipen der 68er-Bewegung am Savignyplatz. Große Zufriedenheit liegt nun im ohnehin fröhlichen Gesicht von Michael Prütz – auch wenn hier inzwischen hauptsächlich Touristen und Geschäftsleute verkehren, die die Schnauze vollhaben vom ewigen Sushi und mal wieder eine Riesenbratwurst brauchen. Das Interieur mit der braun gestrichenen Holzvertäfelung, dem grünen Samtsofa und der überbordenden Osterdeko ist nach wie vor so authentisch wie der harte Ton der Bedienung.

Prütz wählt Schmalzstulle mit Filterkaffee und wird einen Moment lang tatsächlich ein wenig nostalgisch. Denn damals, als er hier verkehrte, trafen sich in der Kneipe alle Schichten und Generationen. Hier informierte man sich, und darum verging auch kaum ein Abend, wo man nicht in die Kneipe ging. „Heute könnte ich das gar nicht mehr“, lächelt er.

Doch eigentlich ist Prütz kein nostalgischer Typ. Lieber denkt er nach vorn. So bewegt die Zeit damals war, so bewegt ging es für ihn weiter, bis heute. Irgendwann musste er auf eine andere Schule, es hatte zu viele Prügeleien gegeben.

Die Terrorgruppe Neuruppin, wie sich seine Schülergruppe nannte, ging in einer maoistischen Gruppe auf, in den Roten Garden. Da wurde es ihm schnell zu autoritär, man musste Uniform tragen und aufstehen, wenn die Gruppenleiter den Raum betraten. Stattdessen Trotzkisten. Abitur, danach ein Jahr Kibbuz in Israel. Politikstudium am OSI, dem Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität. Studentenjob ausgerechnet bei Springer in der Druckerei, na ja …

Danach die große Frage, was tun. Die Entscheidung, Versicherungen zu verkaufen, ohne viel Startkapital sein eigener Herr sein zu dürfen. „Ich hätte mich nicht mehr so gut in Hierarchien einfügen können“, sagt Prütz und sieht überhaupt keinen Widerspruch zwischen seinem Beruf und seinem politischen Engagement bis heute. Dem Tun für die Demo am 1. Mai, dem für Parteien wie die Alternativen Liste, die PDS in Kreuzberg, die WASG, die Partei Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative.

Heute ist es vor allem der Mietenprotest, den Prütz umtreibt. Er verkauft noch immer seine Versicherungen im Büro, das er seit 30 Jahren angemietet hat. Im Graefekiez. Kaum eine andere Gegend in Kreuzberg hat sich in den letzten Jahren rasanter entmischt als diese. Er weiß das genau. Denn alle, die hier wohnen und gewohnt haben, kommen zu ihm.

Die alten Bewohner: Frauen, die er zur eigenen Altersvorsorge überreden muss. Familien, für die selbst Haftpflicht und Hausrat eine Belastung ist.

Die neuen Bewohner: Besserverdiener, die eine Wohnung gekauft haben. Leute, die ihre Kinder nicht zu den Migrantenkindern in die Schule stecken wollen. Leute, die trotzdem die Linken wählen.

Selbst, wenn es der 68er Michael Prütz eines Tages nicht mehr schaffen sollte, sich politisch einzumischen: Er hätte immer noch sein Büro.

Und im Büro wird er erst aufhören zu arbeiten und sich privat einzumischen, wenn er gar nicht mehr kann.

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