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Kobani lebt weiter

Knapp drei Jahre sind seit Ende der Belagerung durch den IS vergangen. Wie ist das Leben in der Stadt heute?

Aus Kobani Zana Seydi

Bevor Kobani ab 2014 den Angriffen des „Islamischen Staates“ (IS) ausgesetzt war, hatte kaum jemand den Namen dieser unscheinbaren syrischen Stadt unweit des Euphrat je gehört. Ihre jüngere Geschichte begann mit dem Arabischen Frühling, der ab dem 15. März 2011 auch in Syrien zu spüren war. Im kurdischen Rojava war Kobani die erste Stadt, die einen Schritt nach vorn wagte. Am 19. Juli 2012 vertrieb die Bevölkerung die Regimekräfte aus der Stadt und übernahm sämtliche staatlichen Behörden. Die Menschen begannen, ihre eigene Verwaltung aufzubauen.

2014 zog Kobani weltweite Aufmerksamkeit auf sich, als eine Handvoll Menschen 134 Tage gegen den IS Widerstand leistete. Die Stadt war eingekesselt, sie hielt stand. Dieser Widerstand und seine Konsequenzen wurden emblematisch für die neue Identität der Kleinstadt.

Wer heute durch Kobani geht, sieht rasch hochgezogene neue Gebäude über dem Schutt der im Krieg zerstörten Häuser. Binnen kürzester Zeit hat die Stadt ihre Wunden versorgt und begonnen aus eigenen Ressourcen das Leben wiederaufzubauen.

Da nicht nur seitens der Türkei, sondern aus je eigenen Gründen auch von der kurdischen Regionalverwaltung im Irak und vom syrischen Zentralstaat Embargos gegen die Stadt verhängt wurden, ist auf dem Markt alles teurer als anderswo. Nachdem Kobani sich aus dem Würgegriff des IS befreit hat, wurden sowohl Lebensmittel als auch Brennstoffe knapp. Die Menschen begannen wieder ihren eigenen Boden zu bestellen, und heute ist von der Knappheit nur noch wenig zu spüren. Die Gesundheitsversorgung ist allerdings sehr begrenzt, und oft müssen die Menschen in die Krankenhäuser von Qamischlo fahren. Treibstoff bekommen sie ebenfalls geliefert.

Die jungen Menschen von Kobani sind fort. Sie gehen, um an einem der vielen Gefechtsherde in Nordsyrien für ihre Sache zu kämpfen. Häufig kommen Leichname von gefallenen Kämpfer*innen in der Stadt an. Deren Namen geben die Menschen dann ihren neugeborenen Kindern, ihren Straßen und Vierteln. Çiya, ein Kurde Mitte vierzig aus der Türkei, wurde aus politischen Gründen zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Statt sie anzutreten, ist er nach Kobani gekommen. Er erzählt: „Heute Abend auf dem Weg nach Hause sah ich Kinder auf der Straße spielen. Sie bauten eine Reihe von Gräbern nach, wie man sie auf unseren Friedhöfen hier findet.“ Man sagt ja oft, Kinder und Frauen seien die Hauptleidtragenden jedes Krieges. Wer nach Kobani kommt, spürt durchgehend, dass das stimmt.

Als der IS erfolgreich zurückgeschlagen wurde, gründeten sich in der Stadt neue Einheiten für die Verteidigung gegen künftige Angriffe, aber auch zur Herstellung von Sicherheit im Alltag. Neben der YPG und den Fraueneinheiten YPJ gibt es die Polizeieinheiten Asayish und die Selbstverteidigungskräfte HPC, die in Streife ­gehen. Eine Frau über 60 ist gerade mit ihrer Dienstschicht durch und sitzt vor einem Lädchen. Sie erzählt, dass sie Teil der Selbstverteidigungskräfte sei. Ich frage, ob sie nicht ein bisschen zu alt dafür sei. „Nein. Ich verrichte meine Aufgaben. Die jungen Leute sind zum Kämpfen an die Front, und ich mache, was ich kann. Es ist sehr anstrengend, aber es macht mich auch sehr glücklich. Denn ich kann selbst etwas für meine Sicherheit tun“, antwortet sie. „Wenn wir das Bewusstsein und die Ausbildung gehabt hätten, bevor der IS ankam, hätten wir keine einzige Frau und kein einziges Mädchen in deren Hände fallen lassen.“

Derzeit sind mehrere hundert Bürger*innen von Kobani in den Kampf nach Afrin gezogen. Am Abend des 20. Januar, als die Türkei einmarschierte, gingen Zehntausende von Menschen auf die Straße, um für Afrin zu demonstrieren. Viele Menschen fuhren regelmäßig nach Afrin, um den belagerten Menschen zu helfen. Die Route führte zwar durch Gebiet, das von den syrischen Regimekräften kontrolliert wurde, aber es gab eine Straße über Manbidsch nach Aleppo und von dort aus nach Afrin. Selbst nach dem blutigen Angriff auf einen Konvoi von Zivilist*innen, die unter der Kontrolle des syrischen Staates nach Afrin fuhren, bricht die Unterstützung der Menschen aus Kobani nicht ab.

Nicht nur auf die Türkei sind die Menschen hier wütend. Man hört sie auch viel über Russland schimpfen. Die meisten Menschen hier sind politisiert. Sie können sich nicht vorstellen, dass die Türkei die Invasion ohne grünes Licht von Russland hätte durchführen können. In einer Diskussion argumentiert eine Frau, die Russen hätten schon 1946 die kurdische Republik von Mahabad fallen gelassen und dem Iran erlaubt, sie sich einzuverleiben. Außerdem hätte Russland Abdullah Öcalan verraten, nachdem die Türkei 1998 Syrien gezwungen hatte, ihn auszuweisen.

Kurz vor Newroz spürt man unter den Kurd*innen sowohl Freude als auch Trauer und Schmerz. Die Vorbereitungen zum großen nationalen Feiertag fallen in den Krieg um Afrin. Die Newrozfeiern von Kobani finden jedes Jahr auf den Hängen von Mischtenur statt. Für dieses Jahr erwartet man eine noch höhere Teilnahme als sonst. Das Thema Afrin mobilisiert die Menschen. Trotz allem haben sie größere Hoffnungen auf eine gute Zukunft als je zuvor und auch die Kraft, ihre Zukunft selbst aufzubauen.

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny

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