die dritte meinung: Die SPD braucht mehr Shoganai, um sich in der Groko zu retten, sagt Keisuke Nakanishi
Keisuke Nakanishi
arbeitet als Korrespondent der japanischen Tageszeitung „The Mainichi Shimbun“ in Berlin. Er ist SPD-Mitglied.
Ich nenne die neue Regierung unter Bundeskanzlerin Merkel heimlich die „Shoganai-Groko“. Viele Deutsche sind vom langwierigen Prozess der Regierungsbildung so erschöpft, dass sie nun eine Regierung hinnehmen, die nur ein „weiter so“ verspricht. Es gab anscheinend keine Alternative.
In einem solchen Fall spricht der Japaner von „Shoganai“. Das Wort hat sich spätestens 2011 eingeprägt, als viele deutsche Medien nach dem Erdbeben und der Fukushima-Katastrophe versuchten, mit diesem Begriff die japanische Mentalität zu erklären. Die Japaner nähmen schlechte Situationen oder umstrittene Entscheidungen wie die Atompolitik ohne sichtbaren Widerstand hin. Übersetzt wird der Begriff oft als „man kann es nicht ändern“. Doch diese Interpretation von Shoganai gilt nicht nur für Japaner.
In der SPD, in der auch ich Mitglied bin, wollte man zunächst nicht weiter mit Merkel regieren. Im Koalitionsvertrag fehlen wichtige sozialdemokratische Ziele wie die Bürgerversicherung. Um ihre skeptischen Mitglieder zu überzeugen, musste die SPD Harakiri begehen. Martin Schulz, der vor einem Jahr mit 100 Prozent gewählt worden war, trat ab, angeblich aus eigenen Stücken. In Wahrheit diente das erzwungene Harakiri dazu, die Shoganai-Mentalität der Genossen zu stärken. Auch ich gab letztendlich mein Ja für die neue Groko.
Die neue Koalition steht vor düsteren Zeiten. Wahrscheinlich wird ihre Mehrheit 2021 nicht mehr groß genug sein, um eine Regierung zu bilden. Gleichzeitig gewinnt die AfD im Bundestag durch provokante Reden gegen Muslime neue Aufmerksamkeit. Die Grundwerte der Bundesrepublik werden vehement in Frage gestellt.
Was Katastrophen angeht, sind die Japaner sehr erfahren. Allein im vergangenen Jahr wurde Japan von sieben Taifunen und 2025 Erdbeben heimgesucht. Nach solchen Katastrophen bedeutet Shoganai nicht nur, die Situation anzunehmen, sondern auch, neue Herausforderungen anzupacken. Hoffentlich kann auch die Shoganai-Groko sich so aus der Lethargie befreien.
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