„Das ist alles Realität“

Im Bestsellerroman „Die Gabe“ von Naomi Alderman sind Frauen stärker als Männer. Wird damit alles gut? Ein Gespräch über Angst, Gewalt und eine bessere Welt

Interview Carolina Schwarz

taz: Frau Alderman, in Ihrem Roman „Die Gabe“ bekommen Mädchen und Frauen die Fähigkeit, Männer mit Stromstößen aus ihren Fingern zu verletzen oder zu töten. Wünschen Sie sich manchmal, Sie hätten diese Fähigkeit?

Naomi Alderman: Ja, auf jeden Fall. Als ich mir vorgestellt habe, dass es diese Kraft wirklich gäbe, habe ich realisiert, in wie vielen Situationen im Leben ich Angst habe. Ich glaube, auch Männer merken, dass sie viel weniger Angst haben als Frauen.

Wann würden Sie diese Kraft einsetzen?

Mein Buch beginnt damit, dass ein Mädchen von ihrem Pflegevater vergewaltigt wird. In Notwehr bringt sie ihn um. Und in diesem Moment möchte ich ihr zujubeln. Wenn in den vergangenen Monaten Frauen im Zuge der #MeToo-Debatte von ihren Erlebnissen mit sexualisierter Gewalt erzählt haben, dann habe ich mir immer gewünscht, ich könnte ihnen „die Gabe“ geben.

Sie thematisieren in „Die Gabe“ sexualisierte Gewalt und einen sehr unsympathischen Charakter mit dem Namen Weinstein. Als hätten Sie #MeToo vorhergesehen …

Meine Mentorin war Margret Atwood und sie ist ein bisschen verrückt. Vielleicht hat sie mir beigebracht, selbst ein bisschen so zu sein (lacht).

In Ihrer utopischen Welt kehren sich die Geschlechterverhältnisse um. Jungs verkleiden sich als Mädchen, um stärker zu wirken, oder sollen nicht mehr allein auf die Straße gehen. Sollen Männer durch den Roman verstehen, wie es ist, als Frau im Patriarchat zu leben?

geboren 1974, lebt in London. Ihr Buch „Die Gabe“ (engl. „The Power“) erzählt von einer Welt, in der Frauen über besondere Kräfte verfügen. Durch diese Gabe wurden die bestehenden Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen umgekehrt. Der Roman gewann den Baileys Women’s Prize for Fiction, sowohl Barack Obama als auch die New York Times kürten es als eines der zehn besten Bücher des Jahres 2017. Heyne Verlag, 16,99 Euro

Es gab einige männliche Leser, die das Buch schockierend fanden und sich fragten, warum ich so schreckliche Dinge aufgeschrieben habe. Und dann wurde ihnen klar: Alles was Männer in diesem Buch erleben – das passiert in der Realität. Gerade in diesem Moment passiert es irgendeiner Frau auf dieser Welt.

Aber wenn es in der Realität passiert, warum haben Sie es als Science-Fiction aufgeschrieben?

Für mich ist Science-Fiction ein weibliches Genre, geprägt von Mary Shelley („Frankenstein“), Margret Atwood („The Handmaids Tale“) oder Octavia Butler („Patternmaster“), die ich alle schon seit Langem bewundere. Das Spannende an dem Genre ist nicht, wenn du schreibst, wie Aliens miteinander kämpfen. Sondern es sind Szenarien, die zeigen, wie unser Leben in einer anderen Gesellschaft aussehen könnte. Und so ein Gedankenexperiment habe ich in „Die Gabe“ ausprobiert.

In Ihrem Gedankenexperiment übernehmen Frauen die Macht, weil sie körperlich stärker sind. Braucht es auch in der Realität körperliche Kraft, um machtvoll zu sein?

Muss ein Mann, der Macht haben will, jemanden ins Gesicht schlagen? Meistens nicht. Aber trotzdem ist faszinierend, was Studien zeigen: Je größer ein Mann ist, desto mehr verdient er. Physische Merkmale machen also noch immer einen Unterschied dabei, wie wir Menschen wahrnehmen. Doch es sind nicht nur der Körperbau und die physische Kraft, die einen mächtig machen. Geld ist Macht, Schönheit ist Macht und die Fähigkeit, gewalttätig zu sein, ist Macht. Du musst also kein Mann sein, um mächtig zu sein. Aber es hilft.

Nun sind Frauen in unsrer Welt im Schnitt körperlich schwächer als Männer. Wie wäre es, wenn die Schwächeren die Welt regieren würden?

Das kommt darauf an, wie sie an die Macht gekommen sind. Ich glaube nicht, dass Frauen grundsätzlich besser sind als Männer. In meinem Buch können Frauen gewalttätig sein, und im Spiel um Macht gewinnen sie gegen die Männer. Doch damit verschieben sie nur die Machtverhältnisse. Wir aber brauchen eine Welt, in der wir kluge Gedanken mehr wertschätzen als einen Schlag ins Gesicht. Wenn wir also beginnen, Eigenschaften zu schätzen, die in der Regel weiblich eingestuft werden, würde uns das zu einer besseren Welt führen. Dafür müssen aber nicht zwangsläufig Frauen an der Macht sein.

Macht das denn gar keinen Unterschied? Gäbe es sexualisierte Gewalt, wie sie bei #MeToo zur Sprache gebracht wird, auch, wenn mehr wichtige Positionen in Hollywood mit Frauen besetzt wären?

Ich denke schon, dass diese Gewalt nicht in solchem Ausmaß passieren würde, wären Männer und Frauen in gleichwertigen Positionen. Komplett eindämmen kann man sie aber nicht. Wenn statt Männern nur noch Frauen das Sagen hätten und beispielsweise über die Rollen der Blockbuster entscheiden würden, dann würden sich die Machtverhältnisse einfach umdrehen. Und wer Macht hat, der missbraucht sie, einfach weil er es kann. Deswegen müssen wir es für die Missbrauchten einfacher machen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Und wir müssen ihnen zuhören.

Kann es denn dann eine Welt geben, in der alle Geschlechter zufrieden leben können?

Der schottische Science-Fiction-Autor Ian M. Banks fragt in seinen „Culture Books“, wie eine Welt aussähe, wenn es vollkommene Geschlechtergerechtigkeit gäbe. In seiner Welt gibt es Medikamente, mit denen es jedem Menschen möglich ist, sein Geschlecht zu ändern. Wann immer und so häufig man möchte. Dann sind wir nicht mehr Männer oder Frauen – sondern einfach Menschen. Eine schöne Vorstellung. Doch solange es Machtunterschiede gibt, wird es auch Ungerechtigkeit geben.

Foto: Justine Stoddard

Wie könnte man denn die Machtunterschiede aus dem Weg räumen?

Sie komplett abzuschaffen ist, glaube ich, nicht möglich. Wir müssen die Unterschiede erst einmal benennen – und dann können wir versuchen, sie zu ändern.

Können Sie ein Beispiel geben?

Es ist in unserer Welt normal, zu sagen, dass Männer durchschnittlich stärker sind als Frauen. Anstatt den Machtunterschied zu erkennen und zu versuchen, ihn zu verändern, verstärken wir ihn. Beispielsweise mithilfe von Schönheitsstandards. Während es für Frauen normschön ist, klein, zierlich und süß auszusehen, sollen Männer aussehen, als könnten sie Frauen durch den Raum werfen. Wir halten also an einer Welt fest, in der Männersportarten gewalttätige Sportarten sind. Ich möchte lieber Männer eislaufen sehen und Mädchen, die in der Schule Karateunterricht nehmen. Das wäre eine kleine Möglichkeit, die unfaire Machtverteilung anzugehen.

Der Titel „Lying Still“ bezieht sich auf unseren Umgang mit Veränderung. Auf das Gefühl des Abwartens und Stillhaltens – man wartet bis der Sturm vorüberzieht, in der Hoffnung, unbeschadet auf der anderen Seite herauszukommen. Piontek ist selbst Teil der Inszenierung, ist Beobachterin und Beobachtete zugleich Foto: Birthe Piontek

Seit 2017 haben wir auf der einen Seite die #MeToo-Bewegung und Women’ s Marches, bei denen über eine Million Frauen in den USA auf die Straße gegangen sind. Auf der anderen Seite steht Donald Trump, ein sexistischer und rassistischer Mann, als Präsident der USA. Auch in Europa gibt es einen Rechtsruck mit Parteien, die ein sexistisches, christlich-fundamentalistisches Frauenbild vertreten. Bewegen wir uns in Sachen Gleichberechtigung und Frauenbild im Kreis?

Donald Trump ist eine furchtbare Person. Aber ich habe Hoffnung: Selbst Donald Trump sagt nicht, dass Frauen nicht wählen dürfen sollten. Selbst Donald Trump sagt nicht, dass wir Vergewaltigung in der Ehe wieder legalisieren sollten. Selbst Donald Trump sagt nicht, dass Frauen in der Ehe keinen eigenen Besitz haben sollten. Ich finde es ermutigend, dass selbst unter diesem sexistischen und rechten Mann bestimmte Dinge nicht mehr in Frage gestellt werden. Das heißt: Auf lange Sicht bewegen wir uns in die richtige Richtung.

Also sollten wir einfach abwarten?

Nein. Wir dürfen uns nicht länger auf dem ausruhen, was die vorherigen Generationen für uns erkämpft haben. Auch dafür ist Trump in gewisser Weise verantwortlich: Er hat uns Frauen aufgeweckt. Und eines ist klar: Wir müssen wieder kämpfen!