: Der rote Funke
Im November vor 100 Jahren verweigerten Matrosen in Wilhelmshaven einen wahnsinnigen Kriegs-befehl. Es folgten Streiks und Demonstrationen in Kiel, die auch auf andere Städte übergriffen – ein perfekter Anlass für einen norddeutschen Feiertag
Aus Kiel Esther Geißlinger
Ein kalter, klarer Tag, die Luft schmeckt nach Salz und Diesel. Möwen kapriolen am blauen Himmel, ihr Gekreisch mischt sich mit dem dumpfen Stampfen eines Motors im Leerlauf. In der Schleuse Kiel-Holtenau wartet ein Frachter auf die Einfahrt in den Nord-Ostsee-Kanal. Auf dem Damm neben dem Kanal schlendern Spaziergänger ihren Hunden hinterher.
Nein, so friedliche Stimmung herrschte nicht, damals im November 1918. Nacheinander fuhren fünf Marineschiffe in die Schleuse ein, jedes besetzt mit gut 1.000 Mann. An Bord war die Stimmung explosiv: Während der Fahrt durch den Kanal waren mehrere Matrosen als Meuterer festgenommen worden. Die Schiffe kamen aus Wilhelmshaven, wo die kaiserliche Flotte während des Krieges festgelegen hatte, blockiert von den U-Booten der Engländer.
Noch im Oktober 1918, als die deutsche Niederlage bereits in der Luft lag, hatten die Offiziere ein wahnsinniges Manöver beschlossen: Admiral Reinhard Scheer und die anderen Mitglieder des Flottenkommandos wollten die Kriegsmarine in eine letzte Schlacht schicken und mit „fliegenden Fahnen untergehen“. Ein Selbstmordplan ohne Zweck, der „Ehre“ wegen. Doch die Matrosen verweigerten den Befehl. Sie hatten genug unter der Schinderei gelitten, genug gehört vom grauenvollen Sterben in den Schützengräben. Es ging ums Überleben, aber auch um eine Zeitenwende: In Russland tobte die Revolution, warum sollte das in Deutschland nicht gelingen? Die Marineführung, ohne Blick für das explosive Gemisch aus Wut und politischem Bewusstsein in den Köpfen der Matrosen, ließ einige der Meuterer festnehmen, sprach Todesurteile aus – zwei Männer wurden erschossen, 13 begnadigt – und schickte die Schiffe des 3. Geschwaders in den Heimathafen Kiel. Mit ihrem Einlaufen am 1. November begannen die Ereignisse, die heute als Matrosenaufstand bekannt sind.
„Der Matrosenaufstand war ein regionales Ereignis, aber seine Bedeutung reichte über Kiel hinaus. Es war ein Zündfunke für die Ereignisse in München und Berlin“, sagt Ernst Mühlenbrink. Der 73-jährige Historiker befasst sich seit Jahren mit den Novembertagen, an denen in Deutschland eine Revolution begann. Er veranstaltet Touren durch Kiel an die Orte, an denen damals gekämpft und debattiert wurde. „Aufstehen für Demokratie“ lautet das Motto, unter dem die Stadt Kiel das Jubiläum dieses Jahr feiert.
Auch die Politik war auf das Datum aufmerksam geworden. „Der Gedenktag des Matrosenaufstandes, der 2. November, war unsere erste Präferenz bei der Debatte um einen weiteren Feiertag für Schleswig-Holstein“, sagt Özlem Ünsal, die Innen- und Rechtsexpertin der SPD-Landtagsfraktion. Seit Monaten wird über diesen Feiertag diskutiert. Inzwischen herrscht Einigkeit für einen weiteren arbeitsfreien Tag: Ein Sieg aus Sicht der SPD, die die Debatte angestoßen hat. Kommende Woche will der Kieler Landtag über das Datum abstimmen.
Allerdings deutet sich eine breite Mehrheit für den 31. Oktober an, den Reformationstag. Auch Ünsal ist inzwischen dafür: „Schon etwas komisch, dass ich, mit muslimischem Hintergrund, mich für einen christlichen Feiertag einsetze“, sagt die Soziologin und Psychologin, die seit Sommer 2017 dem Landtag angehört. „Aber als Norddeutsche ist für mich eine Lösung im Verbund mit den anderen Nordländern ausschlaggebend.“
Denn wie sollen Familien einen gemeinsamen Feiertag erleben, wenn die Kinder in Norderstedt schulfrei haben, Mama aber nach Hamburg zur Arbeit fahren muss? Auch Niedersachsen, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern sollen ins Feiertagsboot. Der Reformationstag wird in Mecklenburg-Vorpommern bereits gefeiert, die übrigen Länder hatten 2017 aufgrund des 500. Jahrestags des Thesenanschlags arbeitsfrei.
„Aus dem 100. Jahr nach dem Matrosenaufstand hätte sich gut auch ein Feiertag entwickeln können“, meint Rasmus Andresen von der Grünen-Landtagsfraktion. Seine Partei hatte sich den Frauentag, den 8. März, als Feiertag gewünscht. „Auch der 13. Juni, den der SSW als Tag der Landesverfassung vorgeschlagen hatte, wäre charmant, nicht nur wegen der Jahreszeit, sondern vor allem wegen der Bedeutung“, sagt Andresen. Ihn stört, dass trotz der laufenden Debatten in den Parlamenten die Ministerpräsidenten für den Reformationstag votiert hatten. „Mit dem Reformationstag können irgendwie alle leben, aber ich hätte es spannend gefunden, länder- und fraktionsübergreifend zu diskutieren.“ Tatsächlich passiert das immer noch: Gabriele Andretta, SPD-Politikerin aus Niedersachsen, hat gerade den Frauentag erneut ins Spiel gebracht.
Um Frauenrechte ging es auch beim Matrosenaufstand, allerdings nur in einer kurzen Phase der wilden Novembertage, berichtet Historiker Mühlenbrink. „Die Marineführung hatte damit gerechnet, dass sich die Matrosen nach der Landung im Rotlichtviertel hängen bleiben. Stattdessen strömten sie in die Stadt und trafen sich mit den Arbeitern.“ Eben das sei das Besondere gewesen: „Erstmals vereinigten sich im großen Stil Arbeiterschaft und Militär.“ Die Arbeiterschaft in Kiel war hoch politisiert, auch die Frauen traten als Akteurinnen auf: „Bilder zeigen eine Demonstration in Friedrichsort am 4. November, bei der zahlreiche Frauen dabei sind.“
Die ersten Forderungen am 2. November waren tatsächlich radikal: Der Kaiser sollte abdanken, das Frauenwahlrecht eingeführt werden. „Davon blieb später nichts mehr übrig“, bedauert Mühlenbrink. Später meint den 4. November, als der Sozialdemokrat Gustav Noske aus Berlin anreiste. Noske ist eine durchaus umstrittene Figur. Als Reichswehrminister der Weimarer Republik befahl er, auf Aufständische zu schießen, überliefert ist sein Satz: „Einer muss den Bluthund machen.“ Während des Kieler Aufstandes gab er nicht den Bluthund, sondern versuchte, die revolutionäre Bestie an die Kette zu legen: „Er wollte die Ordnung wiederherstellen“, sagt Mühlenbrink. Damit erfüllte Noske einen Auftrag. Stadtgouverneur Wilhelm Souchon hatte eine Depesche ans Reichsmarineamt in Berlin geschickt mit der Bitte: „Wenn irgend möglich, hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten hierherzuschicken, um im Sinne der Vermeidung von Revolution und Revolte zu sprechen.“
Bis heute streiten Historiker und auch die Partei selbst über die Rolle der Sozialdemokratie in den Tagen des Aufstands. „Ein kompliziertes Thema“, sagt die SPD-Innenexpertin Ünsal. Hätte eine geeinte Linke mehr erreichen, die Weichen anders stellen können? Aber die Linke war nicht geeint. Auch die SPD selbst war in die Unabhängige SPD (USPD) und die Mehrheits-SPD (MSPD) zerfallen. Die USPD trat für einen radikalen Umschwung ein. In Kiel war sie in den Arbeitervierteln und auf den großen Werften stark. Hier kam es zu Streiks, die die radikalen Forderungen der Matrosen unterstützten.
Am frühen Abend des 3. November versammelten sich Tausende Menschen am Kieler Stadtrand. Organisatoren waren Karl Artelt, Matrose der Torpedo-Division, und der lokale Vorsitzende der USPD, Lothar Popp. „Nach aktueller Forschungslage waren die Arbeiter die treibende Kraft“, sagt Mühlenbrink. Das Ziel der Demonstration war die Arrestanstalt in der Feldstraße, das Gebäude steht heute nicht mehr. Hier saßen als Meuterer arretierte Matrosen ein, darunter 57 revoltierende Besatzungsmitglieder des Schlachtschiffs „Markgraf“, die am Morgen verhaftet worden waren.
Auf dem Weg stürmte die Menge das Lokal „Waldwiese“, ein Offizierskasino, und erbeutete Waffen. Die USPD hatte Flugblätter verteilen lassen: „Kameraden, schießt nicht auf eure Brüder!“ Der Aufruf half nicht: Eine Ausbildungskompanie der Torpedo-Division stellte sich den Demonstranten in den Weg. Es fielen Schüsse, sieben Menschen starben, 29 wurden verletzt. Am nächsten Tag, dem 5. November, schlossen sich weitere Divisionen den Aufständischen an. Rote Fahnen wehten anstelle der Reichskriegsflagge über dem Kieler Hafen.
Die Berliner Gesandten, der SPD-Abgeordnete Gustav Noske und Staatssekretär Conrad Haußmann, trafen am Abend des 4. November ein. Bei einer Versammlung im Gewerkschaftshaus gründete sich ein Arbeiter- und Soldatenrat und beschloss die „14 Kieler Punkte“. Die aber, darauf verweist Mühlenbrink, gingen weniger weit als die Ideen der ersten Tage: „Es sind meist Forderungen zur momentanen Lage wie die Freilassung der Kameraden und Verbesserungen für Matrosen an Bord.“
Noske, nun Vorsitzender des Soldatenrates, übernahm faktisch die Macht in der Stadt. Ab dem 7. November trat er sogar das Amt des Gouverneurs an. Und bremste den revolutionären Eifer. „Am 6. November fahren wieder die Straßenbahnen“, sagt Mühlenbrink. „Da herrschte schon fast wieder Normalität.“ Die Matrosen kehrten auf die Schiffe zurück, die Offiziere kommandierten wieder.
Doch der Kieler Funke war übergesprungen: Am 6. November war Wilhelmshaven in der Hand des Arbeiter- und Soldatenrats, am 7. November folgten unter anderem Braunschweig und Hannover; am 8. November rief Kurt Eisner in München die Republik aus, einen Tag später dankte Kaiser Wilhelm ab. In Berlin trat das Revolutionsparlament zusammen.
Kiel beerdigte zwischenzeitlich die Toten des Aufstandes. Die Soldaten und Matrosen, die bei den Gefechten in der Stadt starben, liegen auf dem Nordfriedhof, der Kriegsgräberstätte, die Grabsteine der Meuterer reihen sich ein zwischen die Kaisertreuen.
So viel Verständnis gab es später nicht mehr, berichtet Mühlenbrink: „1978 stimmte der Kieler Stadtrat für ein Denkmal, das an die Novembertage erinnern sollte. Als es 1982 eingeweiht wurde, mochten CDU und FDP nicht mitfeiern.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen