Kino in der Provinz: Aus Liebe zum Lichtspieltheater
Nach Gesetzen der Marktwirtschaft hätte das „Burg Theater“ in Sachsen-Anhalt längst Pleite sein müssen. Doch es lebt – seit 107 Jahren.
Weiser hatte vor einer halben Stunde noch frohlockt, dass schon 107 Karten im Vorverkauf raus sind – bei 153 Plätzen insgesamt. Und jetzt steht er da wie eine Eiche und darf sich nicht erweichen lassen. An der Flügeltür mit ihren nierenförmigen Griffen ist für Nachzügler Schluss. Über das Gesicht von Florian Weiser huschen daher ganz widersprüchliche Gefühle. Es ist wie in jedem gelungenen Film: Lachen und Weinen liegen dicht beieinander.
Der 36-Jährige ist Vorstandsmitglied vom „Weitblick e. V.“. Der Verein hat vor acht Jahren das Kino vor dem sicheren Tod bewahrt. Viele in der Region erfreut das seitdem, Weiser allerdings, der tagsüber in der Kreisverwaltung arbeitet, bürdet es jetzt diese Last auf. Wer schickt schon gern Besucher nach Hause? „Wir zeigen ihn bestimmt nochmal!“, ruft Weiser den Abziehenden hinterher.
Hatte es bei irgendeinem noch Zweifel gegeben, so viel ist jetzt klar: Dieses Kino, das „Burg Theater“, das nach den Gesetzen der Marktwirtschaft längst hätte pleite sein müssen, lebt – und das seit 107 Jahren. Es ist eines der ältesten in Europa. Und es ist seit 2010 ein gemeinnütziges Projekt, nahezu ausschließlich von Ehrenamtlichen getragen, und mit einem Programm zwischen Arthaus und Mainstream, das regelmäßig um die 15.000 Besucher im Jahr anlockt – in einer Stadt mit nur 22.000 Einwohnern.
Das „Walhalla“ brannte ab
Es ist der älteste erhaltene Kinobau in Deutschland und wird seit 1911 ununterbrochen bespielt, präzisiert Florian Weiser, der Filmvorführer des heutigen Abends. Es gibt einige Kinos, die noch älter sind, etwa das „Pionier“ in Stettin, das vor einigen Jahren im Guinness-Buch als das „älteste Kino der Welt“ gewürdigt wurde. Tatsächlich wurde es schon 1907 eröffnet, allerdings in einem bestehenden Haus, so wie auch das Moviemento in Berlin. Otto Wohlfarth begann 1908 genauso. Er eröffnete in Burg sein erstes Kino, das „Walhalla“, in einem Geschäftshaus. Nach zwei Jahren brannte „Walhalla“ ab. Für Wohlfarth die Chance, in Burg etwas ganz Großes aufzuziehen.
Am 3. Juni 1911 annonciert er die Eröffnung des „ersten, größten und elegantesten Spezial-Lichtspiel-Theaters in der Provinz Sachsen“. Ganz im Stile der wilhelminischen Ära trägt Wohlfarth dick auf: „Im großen Ganzen kann ich mit Stolz behaupten, dass ich für Burg ein Theater geschaffen habe, welches sich mit jedem Weltstadt-Lichtspiel-Theater messen kann und in vieler Beziehung dasselbe noch übertrifft.“ Wohlfarths Palast-Theater verfügt über einen Generator, Ventilatoren und eine Sprinkleranlage. Das neue Kino bietet kein „Kientopp“ mehr, sondern die modernste aller Künste – den Film. Zur Eröffnung gibt es „Charleys Tante“ und einen „Spaziergang durch das alte und neue Rom“.
Aus der Eröffnungsannonce, 1911
Die Burger sind vom Theater begeistert. Als Wohlfarth im Oktober 1912 den „Totentanz“ zeigt, ein Liebesdrama mit Asta Nielsen als treue Ehefrau, die einem allzu aufdringlichen Galan ein Messer in den Leib rammt, mahnt er: „Infolge des zu erwartenden Andrangs bitte ich um rechtzeitigen Besuch.“ So hätte das heute auch Florian Weiser sagen können. 650 Klappstühle hatte Wohlfarth in den Saal stellen lassen, jetzt sind es im Parkett nur noch 116 samtschwarze Polster, dafür mit verschwenderischer Beinfreiheit. Doch an diesem Tag könnten es doppelt so viele sein.
Zelluloid ist Geschichte, auch im „Burg Theater“
Die Reportage „Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt“ von zwei Filmemachern aus Freiburg, die dreieinhalb Jahre um den Globus zogen, die Kamera immer dabei, hat Interessierte angelockt, wie es im Advent sonst nur die „Feuerzangenbowle“ vermag – dabei hat der Verein gar nicht groß geworben.
Weiser ist eine Treppe hinauf, lugt durch das Fenster in den Saal, hockt sich neben den Digitalprojektor und blickt prüfend auf den Bildschirm. Zelluloid ist Geschichte, erzählt Weiser, vom Dimmen des Lichts bis zum Abspann ist alles digital programmiert. Der Film kommt per Post auf Festplatte. Ein Mausklick, und Weiser könnte starten. Wenn nur im Saal langsam Ruhe einkehrte.
Bernd Goldbach kämpft sich dort eine Menschentraube. Goldbach, ein drahtiger Mann, ist der Vereinsvorsitzende von „Weitblick“, der jetzt, fast wie entrückt, ins Parkett blickt, auf die Samtvorhänge und die mächtigen Leuchter. Manchmal scheint es auch für die Akteure wie ein Wunder, dass es dieses Kino noch gibt. Dabei ist Bernd Goldbach eigentlich ein Mann der Nüchternheit und Präzision. So ist es Alltag in seinem Hauptberuf als Oberarzt am hiesigen Kreiskrankenhaus und Leiter der Unfallchirurgie. Es sind zwei Welten, zwischen denen er sich seit Jahren hin und her bewegt.
Und wenn man so etwas wie einen architektonischen Grund sucht, warum das Kino überlebt hat, dann ist es gewiss die Kinobar, ein gastronomisches Erbstück aus DDR-Tagen. Oberhalb des Parketts gelegen, freier Blick zur Leinwand, ist sie so groß wie ein Konferenzraum und doch intim wie ein Séparée – 37 rote Sessel, alle längst besetzt, nummerierte Tische und Lampenschirme wie Pilze. Bis auf den Fußboden ist alles, salopp formuliert, original Honecker 1986. Da hieß das Kino „Theater des Friedens“.
Die Insel über dem Parkett: die Kinobar
Der Ufa-Gong ertönt und verströmt – halb Tagesschau, halb Kirche – seinen geradezu kosmischen Zauber. Vorn rollen bald rollen russische Lastwagen über die Leinwand, hinten schwebt die Kinobar wie eine tiefrote Insel über dem Parkett. Mit Freunden zusammen hocken, sich vom Tresen Bier oder Wein bringen lassen und Filme schauen. Kein Cinemaxx, kein Multiplex, kein Netflix kann diesen Luxus bieten – nur das „Burg Theater“. Nebenbei bringt der Barbetrieb auch noch den nötigen Umsatz.
Warum sie das hier macht? Sabine Hesse steht hinterm Tresen und zögert nicht lange. „Das ist schon wie ein zweites Zuhause“, sagt sie. „Ich mache hauptsächlich Bar, kann aber auch Filmvorführerschichten übernehmen.“ 2013 zog sie nach Burg, arbeitet, wie Florian Weiser, in der Kreisverwaltung. Wenig später gehörte sie zum Verein.
Ihr Kollege Fred Kunikowski ist ein Mann mit silbrigem Haar, silbernem Pullover und einem Goldkettchen um den Hals. Kunikowski, Jahrgang 1954, ist zwar Rentner, hier im Team aber noch ein Jungspund. Gerade erst ein Dreivierteljahr ist er dabei. „Wenn man hier ist, lernt man eigentlich Filme erst richtig kennen und schätzen“, sagt er über seine Motivation. Man stehe schließlich nicht bloß hinterm Tresen und verkaufe Bier. Gerade hat es ihm „Dieses bescheuerte Herz“ angetan, ein tragikomischer Streifen, der gestern, es war ein Dienstag, immerhin 75 Besucher anlockte.
Der Witwer muss eine Weile überlegen, wie es wohl war, als das Kino 2010 vor dem Untergang bewahrt wurde. So viel ist klar, der alte Besitzer, ein Filmvorführer ganz alter Schule, konnte das Kino, zuletzt im Ein-Mann-Betrieb, nicht mehr halten. Kunikowski kam mit seiner Frau damals regelmäßig hierher. Oft genug war der Saal menschenleer. Eines Tages habe der Eigentümer ein Schild angebracht: Kino abzugeben. Es klingt wie ein letztes verzweifeltes Echo auf Otto Wohlfarths kühne Idee – und birgt selbst Stoff für einen Film.
„Aus Altersgründen steht das Grundstück einschließlich Kino am Jahresende zum Verkauf. Interessenten bitte im Kino vorsprechen“, liest Emanuel Conrady vor. So war der genaue Wortlaut der Annonce. Und nicht auf die Straße hatte sie der korrekte Herr gestellt, sondern in den Schaukasten gehängt. Conrady muss den Text immer noch auf dem Schreibtisch liegen haben, so schnell hat er ihn bei der Hand. Sieben junge Leute waren sie 2009, die sich davon angesprochen fühlten, erzählt er. Es war auf einer Party der katholischen Jugend. Nach dem zweiten Bier gab es die erste Idee, nach dem vierten begannen sie zu spinnen, nach dem sechsten schmiedeten sie Pläne. Wenig später standen sie im Kino.
Wie aus einer irren Idee ein großartiges Projekt wurde
Der alte Kinobesitzer, Wilfried Schlaak sein Namen, schickt die Grünschnäbel nicht fort. Im Gegenteil: Er unterrichtet sie in Technik und Buchführung, lehrt sie, wie man Filme bestellt, schneidet und einlegt, und lässt sich überreden, den Betrieb so lange aufrechtzuerhalten, bis die Enthusiasten das wirtschaftliche, das künstlerische und das bauliche Konzept zusammen hatten. Dann aber ist es so weit: Der „Weitblick e. V.“ ist geboren.
Was folgt, sind Baugerüste, kahle Wände, Tapetenreste und jede Menge Müllsäcke. Am 10. September 2010 ist Neueröffnung: „Dirty Dancing“, der DDR-Kassenschlager des Sommers 1989. Das neue Programm bietet aber nicht nur Mainstream, sondern anspruchsvolles europäisches Kino. Es laufen thematische Reihen, wie etwa zu Defa-Filmen. Es gibt Filme in Originalsprache, das Schulfilmfestival „Britfilms“, Kino für Senioren, Kino für junge Eltern mit Krabbelstube. Es finden sich Sponsoren, Handwerker, Kommunalpolitiker, Unternehmer. Die Stadtwerke bezuschussen das Ferienkino, sodass Schulkinder für nur einen Euro hineinkommen. Das Kino bietet Platz für die Interkulturelle Woche, es geht auf Flüchtlinge zu. Die Burger JVA vor den Toren der Stadt will ihren Gefängnischor hier auftreten lassen.
Die Besucherzahlen verdoppeln, verdreifachen, vervierfachen sich. Der Verein wächst. Das Kino wird, mit Fördergeldern und Spenden, Schritt für Schritt renoviert. Das historische Ambiente bleibt erhalten, die Technik wird erneuert. 2014 zieht der Digitalprojektor ein, Kostenpunkt 61.000 Euro. Das „Burg Theater“, so heißt es fortan, auch in Anspielung auf das berühmte Theater in Wien, wird mit Preisen geehrt. Das Kino ist Kulturzentrum, Treffpunkt und historisches Juwel in einem. Das Wachstum ist atemberaubend. Und das, so ist herauszuhören, bereitet Conrady Sorge. Ein Kino dauerhaft zu führen, sagt er, könnte, bei allem Engagement, die Kräfte übersteigen. Zwar gibt es inzwischen eine fest angestellte Leiterin für Planung und Buchhaltung, für den Kinobetrieb reiche das aber nicht aus, fürchtet er. Ehrenamt stoße irgendwann an Grenzen.
Emanuel Conrady hat sich vor einiger Zeit zurückgezogen, wie die ganze siebenköpfige „Gründergeneration“. Nicht aus Groll, versichert Conrady. Studium und Job hat die Truppe erst einmal zerstreut – Berlin, Erfurt, Trondheim. Conrady, der in Erfurt Theologie studiert hat, ist inzwischen nach Burg zurückgekommen und hat, in unmittelbarer Nachbarschaft des Kinos, sein eigenes Projekt verwirklicht, den „Rotfuchs“, ein Mischung aus Kulturcafé und Laden mit regionalem Bioprodukten. Denn eines hat das Kino bewiesen: „Es gibt auch im ostdeutschen ländlichen Raum Leute, die etwas unternehmen wollen und die einen intellektuellen und kulturellen Anspruch haben“, sagt Conrady. „Das geht bis hin zur Getränkekarte.“ Was fehlt, sind Orte. Burg hat jetzt schon zwei.
Die gute Stube von Burg
„Danke, war’n schöner Abend!“ Schulterklopfen, Händeschütteln. Florian Weiser steht wieder an der Tür mit den Nierengriffen. Diesmal strebt alles nach draußen, diesmal ist Weiser ganz entspannt. Es dauert, bis sich über 150 Besucher wie Nachtschwärmer in den Burger Straßen verlieren. Oben in der Kinobar lässt sich Bernd Goldbach in einen der Sessel fallen. Jetzt ist er ganz allein hier. Mit den Grafiken an den Wänden wirkt es tatsächlich wie eine gute Stube.
Die Bilder zeigen Burger Stadtmotive, etwa den Hexenturm oder den Trommler, der sich einst in unterirdischen Gängen verlaufen haben soll. Jedem Motiv ist ein Wort zugesellt wie ein Seufzer. Oder wie ein Stoßgebet. Beim Hexenturm heißt es: „Befreit!“ Beim Trommler: „Verlaufen!“ Auf einem der Bilder ist das Kino zu sehen. Auf seinem Dach balanciert, recht übermütig, ein Mensch, einen Strauß Luftballons in der Hand. Fast scheint er abzuheben. Daneben steht: „Gerettet!“
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