Justiz- und Rechtssystem der DDR: Tschekisten, Prinzlinge, Anwälte
In „Im goldenen Käfig“ schreibt Christian Booß über die Stasiakten von DDR-Anwälten. Dazu ein Gastbeitrag des früheren Justizsenators von Berlin.
Ungewöhnlich ist das schon. Christian Booß, altgedienter Rundfunk- und Fernsehmann, zugleich langjähriger Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde, legt als Wessi ein Buch über „DDR-Anwälte im politischen Prozess“ vor. Wer nun die flott geschriebene Endabrechnung unter dem Motto „Alles Stasi oder was“ erwartet, wird gleich mehrfach enttäuscht.
Das Buch fußt auf der Dissertation, mit der Booß an der Berliner Humboldt-Universität promovierte. Entsprechend umfangreich ist es geraten – 800 Seiten, geschrieben im wissenschaftlichen Duktus, mit Fußnoten und Quellenverzeichnis („Im goldenen Käfig“, Vandenhoeck & Ruprecht). Der Autor behauptet, nicht viel mehr als eine Ausarbeitung anhand von Stasiakten aus drei Jahrgängen über Anwälte in MfS-ermittelten Strafverfahren vorzulegen. Dies ist die Untertreibung des Jahres.
In Wirklichkeit zeichnet er die Entwicklung der Anwaltschaft in der DDR, ihre Rekrutierung und Ausbildung, ihre politische Instrumentalisierung, ihre Grenzen und Freiräume, ihr Agieren innerhalb und außerhalb des Polizei- und Justizapparates nach.
Wie um alle falschen Erwartungen gleich zu dekonstruieren, beginnt Booß mit einem Vorwort vor dem Vorwort. Dort wird der Richter Wetzenstein–Ollenschläger, Richter in der DDR und später Direktor des Berliner Stadtbezirksgerichtes Lichtenberg, genannt „Schakal von Berlin“, als widerständig gegenüber zu hohen Strafanträgen der Staatsanwaltschaft geschildert. Ausgerechnet jener Mann, der in den 1990er Jahren in der Transformationsphase Ostdeutschlands mit Millionen aus dem KoKo-Imperium bis heute abgetaucht ist, habe hier in den Augen seiner Kollegen „Kreuz gezeigt“.
Christian Booß: „Im goldenen Käfig“, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, 45 Euro
Entnazifizierung und Flucht in den Westen
Die Schwarz-Weiß-Schablone bleibt also in der Schublade. Der Autor breitet stattdessen Fakten über Fakten aus. Und er kommt zu wohltuend differenzierten Bewertungen, ohne klare Festlegungen und Verurteilungen dort, wo notwendig, zu scheuen. Dass das Gesamtbild der Anwaltschaft in der DDR so düster ausfällt, liegt alleine am betrachteten Objekt.
Booß zeichnet nach, wie innerhalb weniger Jahre die Zahl der zugelassenen Anwälte von ca. 2.800 auf konstant ca. 600 bis zum Ende der DDR sinkt. Dies geschieht durch Entnazifizierung – nach Opportunitätsgesichtspunkten wie bei Militär und Polizei –, durch Flucht in den Westen und last but not least durch die Bildung der Kollegien der Rechtsanwälte. Dies war zwar nicht die oft so genannte Zwangskollektivierung des Anwaltsstandes.
Aber mit Zuckerbrot und Peitsche wurde die Zahl der Einzelanwälte auf ein Minimum reduziert – nur dort, wo der Staat sie brauchte, etwa im internationalen Rechtsverkehr, dem Häftlingsfreikauf oder bei der Überwachung der ihnen gegenüber oftmals arglosen Opposition. Die Kollegien nach sowjetischem Vorbild sollten das Gegenbild zur „bürgerlichen freien Advokatur“ sein.
Wieland war von 2005 bis 2013 Abgeordneter im Deutschen Bundestag (Bündnis 90/Die Grünen). Von 2001 bis 2002 Bürgermeister und Senator für Justiz des Landes Berlin.
Auch für sie galt das allgemeine Motto von Walter Ulbricht, dass alles schön demokratisch (in diesem Fall nach Selbstverwaltung) aussehen müsse, aber die Genossen alles in der Hand halten sollten. So hatten z. B. die Vorsitzenden die Aufgabe, als „Instrukteure“ der vorgegebenen politischen Linie zu wirken.
Es stellt sich eine ganze Reihe von Fragen. Entschuldigt nicht diese Einbettung in die sozialistischen staatlichen Strukturen alles? Musste nicht jeder Mandant wissen, dass es in diesem Staat DDR keinen unabhängigen Anwalt geben konnte? Beauftragte er nicht mit dem Anwalt in vollem Bewusstsein die Stasi gleich mit? Kann das Anwaltsverständnis westlich-rechtsstaatlicher Prägung hier herangezogen werden? Gibt es überhaupt ein systemübergreifendes allgemeingültiges Rollenbild des Anwaltes, das als Maßstab für die Beurteilung der einzelnen gelten kann?
Die Einzelfallschilderungen von Christian Booß geben darauf Antworten.
Der Fall Schnur
Einfach ist sie bei Anwälten, die wie Wolfgang Schnur sich schon vor ihrem Jurastudium dem MfS verpflichteten und dann in ihrer gesamten Anwaltstätigkeit „bis zur physischen und psychischen Erschöpfung Tag und Nacht berichteten“. Er und bedenklich viele andere wurden verpflichtet, „alle Vorgänge, die sie als Rechtsanwälte bekommen, vom tschekistischen Standpunkt aus zu sehen“. Sie sollten nur die Mandate annehmen, „die für uns operativ interessant sind“.
Der Schauspieler Armin Mueller-Stahl wird zitiert, wie er im Nachhinein über seinen IM-verpflichteten Anwalt Edgar Irmscher urteilt: „Da sitzt der Rechtsanwalt, … mein vermeintlicher Freund, spricht Recht und tat Unrecht. Alles, aber auch alles hat er der Stasi mitgeteilt, was ihr nicht hätte mitgeteilt werden dürfen.“
Und sie teilten nicht nur mit. Sie verrieten Mittäter und Mitwisser der unterstellten Straftaten und beteiligten sich an Gegenstrategien und Zersetzungsplänen der Stasi. Der Anwaltsstatus tarnte und begünstigte ihr Tun. Sie waren Tschekisten in der Anwaltsrobe.
Friedrich Wolff und Gregor Gysi
Schwieriger wird die Beurteilung bei den Anwälten in der Grauzone, die zum Teil wie Friedrich Wolff in den Gründungsjahren IMs wurden, aber dann nicht immer nach der Pfeife des MfS tanzten und z. B. auch einmal Freisprüche in politischen Prozessen beantragten. Oder bei den „Prinzlingen“ aus der nachgeborenen Generation, die, wie Gregor Gysi, ohne formelle IM-Verpflichtung in mannigfacher Weise mit Staat, Partei und MfS verbunden waren.
Ein Anwalt darf grundsätzlich auch mit dem Teufel sprechen. Dann kooperiert die Anwaltsrobe mit dem Tschekisten. Dieser Kontakt muss allerdings immer im Interesse des Mandanten liegen und zwingend mit dessen Wissen und Einverständnis geschehen. Hier schildert Booß eine Vielzahl von Fällen, z. B. im Anschluss an die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1988, wo genau dieses Wissen und Wollen von den Inhaftierten bestritten wird.
Völlig befremdlich ist schließlich die fehlende Solidarität vieler mit den Anwaltskollegen, die ausschließlich die Interessenvertretung ihrer Mandanten anstrebten. Die Rechtsberatung eines Ausreisewilligen ohne Honorar reichte zum Berufsverbot.
Die Fälle Reinhard Preuß und Götz Berger
Ausführlich schildert Booß die Fälle Preuß, Berger und Henrich. Rechtsanwalt Dr. Reinhard Preuß galt dem MfS als ein „Mensch, der nichts mit unserem Staat gemein hat“. Er informierte, zu dieser Zeit noch zulässig, Anwaltskollegen in Westberlin über das Schicksal von Inhaftierten. Mit der Begründung, dass in den Handakten von Preuß nicht alle Aufträge der freikaufwilligen Häftlinge nachvollziehbar seien und er sich so der Kontrolle der kostenmäßigen Abwicklung entzogen habe, appellierte das Justizministerium an das materielle Interesse der Anwaltskollegen. Erfolgreich.
Das „Kollegium Beschluss“ – Parteileitung, Vorstand, Plenum – schloss ihn 1973 aus der Anwaltschaft aus. Erst 1978 erhielten alle Anwälte die Information, dass es nicht gestattet sei, „selbstständig Verbindungen zu BRD- bzw. Westberliner Anwälten aufzunehmen bzw. zu unterhalten“. An DDR-Bürger seien „keinerlei Informationen“ weiterzugeben.
Im Fall von Götz Berger verhängte das Justizministerium gleich selber das Berufsverbot und holte sich erst im Nachhinein in stalinistischer Manier die Zustimmung des Kollegiums und persönliche Erklärungen der einzelnen Mitglieder. Berger war Altkommunist, Spanienkämpfer, hoher Richter in den Anfangsjahren der DDR, hoch angesehen, aber eben auch unbeirrbarer Vertreter von Wolf Biermann, Robert Havemann und anderen. Der Staat vollzog an ihm ein auf Abschreckung zielendes Exempel. Und war damit erfolgreich.
Die Mitgliederversammlung aller Anwälte der „Hauptstadt der DDR“ erklärte am 6. Dezember 1976 einstimmig: „Wir distanzieren uns von dem Verhalten des ehemaligen Mitgliedes unseres Kollegiums, Dr. Berger, das im Widerspruch steht zur Berufung des Rechtsanwalts, in Wahrung der Rechte der Bürger zur Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit mitzuwirken“. Der Staatssekretär im Justizministerium war bei der Zulassungsenthebung direkter: „Denk an Budapest, da haben sie unsere Genossen an Laternenpfählen aufgehängt. Und Du hast jetzt dazu aufgefordert.“
Rolf Henrich
Noch im Jahr des Mauerfalles 1989 wurde der Rechtsanwalt und Mitbegründer des Neuen Forums Rolf Henrich wegen seines Buches „Der vormundschaftliche Staat“ vom Kollegium Frankfurt (Oder) aus der Anwaltschaft ausgeschlossen. Die Stasi wollte mit Hilfe anderer Anwaltskollegen „diesen Banditen in die Furche ducken“. Der herbeigeeilte Chef der Anwaltskollegien, Gregor Gysi, argumentierte nach Aussagen von Anwesenden, wer die Stasi „Geheimpolizei“ nenne, dürfe sich über die Folgen nicht wundern. Gysi selbst erinnert sich wie immer anders.
Fazit: Das Bild des goldenen Käfigs trifft es nicht ganz. Für Anwälte mit Westreiseerlaubnis stand die Käfigtür weiter auf als für den Normalbürger. Dass Anwälte gut verdienen, ist noch kein berechtigter Vorwurf. Im Westen hätten sie im Zweifel mehr verdient.
Das Gros der Anwälte bejahte das System und unterstützte den Staat demnach. Der Staat brauchte sie, gerade im Verkehr mit dem Ausland und als rechtliche Fassade. Diese an sich starke Position führte aber nur zu zaghaften Forderungen nach mehr Unabhängigkeit. Das Gängelband des Staates war akzeptiert und wurde sogar „in Selbstverwaltung“ gegen unliebsame Kollegen selbst angelegt. Eigentlich sollte dieses Buch hierüber eine kontroverse und lebhafte Diskussion auslösen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Plan für Negativ-Emissionen
CO2-Entnahme ganz bald, fest versprochen!
Human Rights Watch zum Krieg in Gaza
Die zweite Zwangsvertreibung