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Die Choreografie der Zustimmung

Die SPD ringt sich nach stundenlanger Debatte auf dem Parteitag zu Koalitionsverhandlungen mit der Union durch. Die Kritiker der Groko sind lauter, doch am Ende stimmt eine knappe Mehrheit dafür

Aus Bonn Ulrich Schulte und Stefan Reinecke

Kevin Kühnert geht mit entschlossenen Schritten an den drei großen roten Buchstaben „SPD“ vorbei zum Rednerpult. 13.09 Uhr, es wird still im Saal Genf im World Conference Center in Bonn. Kühnert, der Anführer der Revolte gegen eine neue Große Koalition, legt los.

„Ich habe immer gesagt, dass wir gut verhandelt haben.“ Er betont das Gemeinsame, ist sachlich, nicht scharf. Kühnert bemängelt die „wahnwitzigen Kehrtwenden seit der Wahl, die uns Vertrauen gekostet haben“. Und warum war das Sondierungsergebnis erst „hervorragend“, wenn es kurz danach von vielen in der SPD-Spitze „zerpflückt wurde“?

Martin Schulz

Das ist eine Spitze gegen Martin Schulz. Der SPD-Vorsitzende hatte die Sondierung über den grüne Klee gelobt. „Wir sind in einer Endlosschleife, die Groko nicht zu wollen, aber sie immer weiter zu machen“, sagt Kühnert. „Das müssen wir beenden.“ Als Kühnert fertig ist, jubeln ihm viele Delegierte zu. Sie mögen ihn, ihren Rebellen – aber sie lassen die Revolte ausfallen. Die SPD wird in Koalitionsverhandlungen mit der Union eintreten. Aber sie hat neue Bedingungen. Das ist die Essenz des Beschlusses, den die 642 Delegierten am Sonntag in Bonn fassten. 326 stimmen für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen. Das sind 56,4 Prozent.

Ein Nein hätte Schulz wohl aus dem Amt gekegelt. Auch der übrigen SPD-Spitze, die sich geschlossen hinter das Sondierungspapier gestellt hatte, wäre geschadet worden. Neuwahlen hätten angestanden. Diese Erschütterungen bleiben nun aus. Stattdessen: The Groko-Show goes on. Eigentlich war früh absehbar, dass sich die Groko-Befürworter um Martin Schulz durchsetzen würden.

Die SPD-Spitze änderte kurz vor dem Parteitag ihren Leitantrag und nahm Bedingungen auf – die Brücke für die Skeptiker steht. Es müsse „konkret wirksame Verbesserungen“ gegenüber dem Sondierungsergebnis geben, heißt die Kompromissformel – und zwar bei der Eindämmung befristeter Jobs, der Zweiklassenmedizin und bei einer Härtefallregelung des Familiennachzugs für Flüchtlinge. Auf diese drei Punkte hatten die wichtigen Landesverbände Nordrhein-Westfalen und Hessen gedrungen.

Schon die Ouvertüre war klug geplant. Malu Dreyer, die beliebte Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, eröffnet den SPD-Parteitag. Dreyer war lange erklärtermaßen skeptisch gegenüber der Groko, sie warb für eine Minderheitsregierung der Union. Jetzt darf sie ihren Sinneswandel ausführlich begründen.

Man dürfe sich keine Illusionen machen, ruft Dreyer. „Wir entscheiden heute darüber, ob wir in Verhandlungen oder in Neuwahlen gehen.“ Sie wischt die Minderheitsregierung weg, dazu sei die mutlose Union nicht in der Lage. Neuwahlen also. Das ist die handfeste Drohung, die über allem schwebt. Neuwahlen könnten für die SPD – ohne Strategie, ohne Machtoption – im Desaster enden.

Kurz vor zwölf Uhr kündigt die Versammlungsleiterin die Rede von Martin Schulz an. Kurz wird es heimelig und etwas kitschig. Ein großes Gewicht, sagt sie, liege auf seinen Schultern – und sie alle könnten es ein wenig spüren. Schulz beginnt ruhig. Versöhnlich. Keiner soll denken, dass er sich in einer Konfrontation befindet, bei der es um seine Zukunft geht.

Er lobt seine innerparteilichen Gegner. Den ­Jusos gehe es nicht um sich selbst. Ihnen gehe es – wie allen im Saal – um die Würde und Stärke der SPD. Schulz verteidigt nochmals die Entscheidung am Wahlabend, auf Opposition zu setzen. Nicht die damaligen Argumente waren falsch, so die Botschaft, die Umstände haben sich geändert. Schließlich ist Jamaika erledigt – und für Schulz steht fest: „Jamaika hätte Deutschland zu konservativ, zu neoliberal, zu wenig sozial regiert.“

Während Schulz spricht, bleibt es oft totenstill in der Halle. Die Stimmung ist gedämpft. Allen ist klar, dass die SPD die Wahl zwischen „schlimm“ und „fürchterlich“ hat. Schulz muss eine erstaunliche Kehrtwende rechtfertigen.

Als Leuchtturm hebt er die ausgehandelte Bildungsoffensive hervor. Und, natürlich, die Europapolitik, die er persönlich mit Merkel verhandelt hat. Bei diesen Passagen spricht Schulz leidenschaftlicher, der Funke springt über. Er verspricht nicht weniger als das Ende der brutalen Sparpolitik von Merkel und Schäuble. Einen „Paradigmenwechsel“. Der Geist des Neoliberalismus in Europa müsse endlich ein Ende haben, ruft Schulz. „Dieses Europa wird ein sozialdemokratischeres Europa sein als heute!“

Als Schulz nebenbei einflicht, dass ihn Emmanuel Macron gestern angerufen habe, rufen ein paar Delegierte ironisch: „Hey!“ Schulz redet frei, geht weg vom Manuskript. „Durch Europa schwappt eine rechte Welle.“ Polen. Tschechien. Ungarn. Diese Welle könne gebrochen werden durch eine deutsche Regierung, die sich zu Menschenrechten bekennt. Mit der SPD, selbstverständlich.

Schulz verspricht, für zusätzliche Verbesserungen zu kämpfen. Und er legt sich in einem Punkt fest: Eine Härtefallregelung des Familiennachzugs für Flüchtlinge „wird kommen“. Das ist eine harte Formulierung, an ihr wird Schulz sich messen lassen müssen. Wenn die Union hier mauert, hat er ein Problem.

Schulz arbeitet mit einem Trick, der unseriös anmutet. Obwohl Merkel früh signalisiert hat, dass mit ihr die Tolerierung einer Minderheitsregierung nicht zu machen sei, jazzte die SPD-Spitze diese Option wochenlang hoch. Der SPD-Parteitag im Dezember beschloss, dass das Sondierungsteam ergebnisoffen über alle Varianten verhandeln solle. Die Union, ruft Schulz, habe die Minderheitsregierung oder eine Kooperationskoalition am Vorabend des letzten Sondierungstags in aller Klarheit abgelehnt.

An einer anderen Stelle verspricht er den Delegierten das Blaue vom Himmel. Nicht die Partei habe sich an Regierungsinteressen zu orientieren, ruft er. „Die Regierung setzt um, was Partei und Fraktion vorgeben.“ Das wäre das Gegenteil der Basta-Politik, unter der die SPD unter Schröder und Müntefering gelitten hat. Aber ist das realistisch? Merkel wird müde lächeln.

Zum Schluss kommt Schulz noch einmal auf Europa zurück. Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras habe ihm geschrieben: Wenn das Europapapier Wirklichkeit werde, könne die junge Generation in Griechenland Hoffnung auf Beschäftigung und Arbeit schöpfen. Es gebe die Chance, mehr soziale Gerechtigkeit in dem Land und auf dem Kontinent herzustellen. Schulz ruft: „In meinen Augen wäre es fahrlässig, diese Chance nicht zu ergreifen.“

Der SPD-Chef hebt dramatisch die Stimme. Der anschließende Applaus ist peinlich dünn, nach einer Minute tröpfelt er ganz aus. Die Delegierten folgten nicht aus Begeisterung, sondern aus der Einsicht, das alles andere schlimmer wäre.

Die SPD-Spitze ist geschlossen für Koalitionsverhandlungen: Manuela Schwesig, Karl Lauterbach, Ralf Stegner, Andrea Nahles, Olaf Scholz, Stephan Weil. Schwesig merkt immerhin selbstkritisch an, dass die SPD-Führung auch mal aus eigenem Unvermögen falsch lag und komplett unvorbereitet war, als Jamaika scheiterte.

Aber kein SPD-Prominenter hält die Gegenrede. So suggeriert das Verfahren – die Kontrolle durch Parteitag und am Ende das Basisvotum zum Koalitionsvertrag –, dass das Nein möglich ist. Die Inszenierung dieses Parteitags spricht eine andere Sprache. Er folgt der Choreografie der Zustimmung. So war der Applaus für Kühnert laut, der für Schulz zurückhaltend. Aber es ist eine Minderheit, die so laut johlt und klatscht. Und es ist keine siegesgewisse Zustimmung – es hat eher etwas davon, Dampf abzulassen, ein Ventil, das den Druck im Topf senkt.

Es ist typisch sozialdemokratisch: erst laut dagegen sein, dann leise dafür. Die meisten RednerInnen sind skeptisch, ob Weiterverhandeln lohnt. Doch der Ton der Kritikerinnen ist gedämpft. Viele betonen, dass sie auch die Gründe der Jasager respektieren. Ex-Juso-Chefin Johanna Ueckermann sieht fortgesetzte Große Koalitionen generell kritisch. Scharfe Attacken auf den Schlingerkurs von Martin Schulz? Fehlanzeige.

Die No-Groko-Fraktion scheint ihre Niederlage schon zu ahnen – und für die Niederlage vorzubauen. Am Montag muss man ja weiter miteinander klarkommen. Nur Andrea Nahles, eisern für die Regierungsbeteiligung, redet sich, als wäre sie noch Juso-Chefin, in Rage: „Die Bürger“, brüllt sie in den Saal, würde „uns den Vogel zeigen“, wenn die SPD nicht in die Regierung eintreten würde.

Als letzter Redner plädiert um 16 Uhr kurz vor der Abstimmung Thorsten Schäfer-Gümbel, der hessische SPD-Chef, nachdenklich für ein Ja. Er hat sich als Einziger bei den Sondierungen enthalten. Wenn jemand, dann kann er Zaudernde überzeugen. „Koalitionsverhandlungen werden schwierig“, sagt er. Die Groko-Skeptiker Malu Dreyer und Schäfer-Gümbel am Beginn und Ende der Debatte – es ist die perfekte Dramaturgie für die Pro-Fraktion.

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