Ratsfrau über Wohnungen für Obdachlose: „Der Leistungsdruck muss weg“

Die Stadt Hannover plant ein Projekt, in dem Obdachlose einfach eine Wohnung bekommen. Mit „Housing First“ können sie ankommen, bevor sie ihre Probleme angehen.

Zwei Schlafsäcke, mehrere Decken und Schnapsflaschen liegen auf dem Boden eines öffentlichen Säulengangs.

Schlafplatz auf der Straße: Hier setzt das Prinzip „Housing First“an Foto: dpa

taz: Frau Langensiepen, warum wollen Sie Obdachlosen einfach den Schlüssel für eine Wohnung in die Hand drücken?

Katrin Langensiepen: Warum nicht? Warum müssen sich obdachlose Menschen Wohnraum erst verdienen? Sie müssen erst trocken sein, belegen, dass sie mit Geld umgehen können, also die Miete zahlen und frei von Schulden sein. Da sind so viele Hürden oder Stufen, bis jemand wieder an einen privaten Wohnraum kommt. Ich finde, dass man ein Recht auf Wohnung haben sollte. Da brauchen wir einen Paradigmenwechsel.

Beim Prinzip „Housing First“, das Sie vertreten, müssen die Obdachlosen keinerlei Voraussetzungen erfüllen?

Nein. Das ist das Neue an Housing First. Erst mal kommen die Menschen runter von der Straße in ihre eigenen vier Wände, bekommen ihre Privatsphäre zurück und haben die Chance, sich wieder an das Wohnen und den Aufenthalt im geschlossenen Raum zu gewöhnen. Du musst nichts erfüllen, sondern darfst hier erst mal sein. Dabei braucht es auch keine Trennung zwischen Obdachlosen und Wohnungslosen. Die sollte man sowieso vollkommen streichen.

Wohnungslos bedeutet, dass man keine eigene Wohnung hat, sondern etwa bei Freunden unterkommt, und Obdachlosigkeit das Leben auf der Straße.

Genau. Wohnungslosigkeit ist aber kurz vor der Straße. Freunde nehmen einen nicht ewig auf und irgendwann sagt auch der Letzte, ich will jetzt auch mal etwas dafür haben, dass du hier lebst. Dann ist der letzte Schritt die Parkbank.

Housing First ist der sozialpolitische Ansatz, Obdachlosen ohne Voraussetzungen eine Wohnung zur Verfügung zu stellen.

Bisher kommen Obdachlose in Notunterkünften unter und müssen sich erst für eine Wohnung qualifizieren.

Gestartet wurde das Projekt in den 90er-Jahren in New York. Heute ist es in Städten wie Amsterdam oder Wien angekommen.

Studien aus den Städten belegen, dass die untergebrachten Menschen meist noch Jahre später in den Wohnungen leben.

In Kiel hat das Straßenmagazin Hempels ein Mehrfamilienhaus gekauft, um wohnungslose Menschen unterzubringen. Die Kosten von 370.000 Euro kamen über Spenden zusammen.

Und bei Housing First würden auch diese Menschen gleich eine Wohnung bekommen, damit sie gar nicht erst auf die Straße müssen?

Das ist das oberste Gebot, dass die Menschen gar nicht erst auf die Straße geraten. Erst ein Dach über dem Kopf und dann schaut man, wie man die Alkohol- oder Schuldenproblematik lösen kann. Man muss dann keine Angst haben, weil man sein Zimmer mit vielen anderen teilen muss. Einige trauen sich nicht in die Notunterkünfte, weil Alkohol und Gewalt an der Tagesordnung sind. Gerade Frauen wollen da nicht hin.

Wie kommen Obdachlose denn momentan in Hannover von der Straße in eine Wohnung?

Laut dem niedersächsischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung ist das Wohnungsamt verpflichtet, jedem ein Obdach zu geben. Also wenn jemandem die Bude abfackelt, muss die Stadt ihm ein Dach über dem Kopf geben. Dafür gibt es die Notunterkünfte, in die man in der Nacht gehen kann. Aber am nächsten Tag muss man auch wieder raus. An eine Wohnung zu kommen, ist in Hannover schwierig, weil es zu wenige gibt.

Warum?Wir sind in den vergangenen Jahren davon ausgegangen, dass die Bevölkerungszahl sinkt. Stattdessen steigt sie aber und wir haben einen vehementen Druck auf dem Wohnungsmarkt.

Für Housing First brauchen Sie viele Wohnungen. Wo sollen die herkommen?

Es ist unrealistisch zu sagen, wir brauchen morgen soundso viele Sozialwohnungen. Das werden wir auf die Schnelle nicht hinkriegen, aber man kann zum Beispiel gucken, wie es in Köln funktioniert mit dem Hotel Plus.

42, Seit der Europawahl 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments als Teil der Fraktion Die Grünen/EFA. Sie ist die einzige weibliche Europaabgeordnete mit sichtbarer Behinderung.

Was wird da gemacht?

In Köln hat man obdachlosen Menschen mit psychischen Erkrankungen nach dem Housing-First-Prinzip ermöglicht, eine Wohnung in einem umgebauten Hotel zu bekommen.

Wäre es nicht sinnvoller, die Obdachlosen gleich dezentral unterzubringen? Sonst ähnelt es einer Notunterkunft.

Wir wollen keine Massenunterkünfte, sondern eine niedrige Zahl von Menschen pro Einheit, die tatsächlich eigene vier Wände bekommen.

Haben Sie in Hannover schon Gebäude im Auge?

Nein. Es werden zwei neue Obdachlosenunterkünfte gebaut. Es könnte sein, dass da eine Möglichkeit besteht, das zu integrieren. In unserem Antrag fordern wir jetzt erst einmal die Verwaltung dazu auf, bis zum Sommer einen Vorschlag für ein Pilotprojekt zu erstellen.

Wer soll die Wohnungen bezahlen? Ist das nicht teurer als die bisherige Lösung?

Die Städte in den USA oder Kanada, die das schon ausprobiert haben, sagen, dass es nicht zwingend teurer ist. Wichtig ist aber vor allem, dass Housing First funktioniert. Die Erfahrungen zeigen, dass in den Städten, die das ausprobieren, weniger Menschen auf der Straße leben. Dazu kommt die Nachhaltigkeit: Die Menschen landen nach sechs Monaten oder einem Jahr eben nicht wieder auf der Straße.

Viele Obdachlose sind zuvor mit den Verpflichtungen einer Mietwohnung nicht zurecht gekommen. Wie wollen Sie die Menschen unterstützen?

Housing First bedeutet auch, dass man Hilfen in Anspruch nehmen kann. Ich denke dabei zum Beispiel an die Soziale Wohnraumhilfe in Hannover, die begleitetes Wohnen anbietet. Natürlich brauchen wir Sozialarbeiter, die die Menschen begleiten, damit sie eben nicht wieder aus der Wohnung fliegen. Dieses Netzwerk haben wir in Hannover.

Haben die Obdachlosen in den neuen Wohnungen dann lebenslanges Wohnrecht oder gibt es doch eine Frist?

Natürlich kann derjenige da wohnen bleiben. Das ist sein Umfeld. Wenn jemand stabilisiert ist, kann er sich aber auch eine andere Wohnung suchen. Housing First ist ein Übergang zwischen Notunterkunft und eigener Wohnung, ein erster Anker. Trotzdem wird es immer Beispiele geben, wo Menschen zurück auf die Straße gehen. Das müssen wir akzeptieren.

Braucht die Stadt keine Notunterkünfte mehr, wenn Housing First kommt?

Doch. Wenn jemandem morgen die Wohnung abbrennt, muss derjenige ja schnell eine Unterkunft haben. Außerdem brauchen wir Flexibilität, um zum Beispiel Zuwanderern aus Osteuropa ein Bett zu geben.

Wie geht es in Hannover jetzt konkret weiter?

Unseren Antrag von SPD, FDP und Grünen werden wir am 15. Januar hoffentlich beschließen. Dann soll uns die Verwaltung Vorschläge machen. Wichtig ist mir, dass wir uns auf den Weg machen. Dieses Prinzip „Du musst erst mal schön brav und leistungskonform sein, bevor du an das hohe Gut einer Wohnung kommst“ finde ich schon sehr arrogant. Der Leistungsdruck muss weg.

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