: Wie schuldig ist die Telefonistin?
In jedem KZ gehörten auch Frauen zum Personal: als Aufseherinnen, Schreibkräfte, in der Küche, als Reinigungskräfte
VonKlaus Hillenbrand
Christel R., 92, war sich keiner Schuld bewusst. „Das war nicht freiwillig“, sagte sie im Frühjahr 2017 dem Münchner Merkur. Ihre Arbeit sei sie in einem Verwaltungsgebäude nachgegangen abseits der Häftlingsbaracken, und sie sei „nicht sehr lange“ dort gewesen.
Christel R. war im KZ Stutthof bei Danzig tätig, als Telefonistin. Sie gehört zu vier Frauen aus dem KZ, gegen die Staatsanwaltschaften wegen Beihilfe zum Mord ermitteln. Eine andere von ihnen lebt im Kreis Lörrach und ist 90 Jahre alt. Auch sie soll in der Telefonzentrale gearbeitet haben. Als Schreibkraft in Stutthof fungierte eine heute 92-Jährige, gegen die in Itzehoe ermittelt wird. In Stutthof waren schon ab 1939 Menschen unter erbärmlichen Bedingungen inhaftiert. Doch erst von Juli 1942 an galt es offiziell als Konzentrationslager. Bald darauf entstanden das Krematorium und die Gaskammern. Ein Häftling erinnerte sich an den Alltag in Stutthof: „Auf vier Personen kam ein Strohsack mit einer Decke. Die Nacht war wegen des ständigen Kampfes um ein bisschen Platz unheimlich anstrengend.“
Nur wenige quittierten den Dienst
Insgesamt 110.000 Häftlinge aus 28 Staaten waren in dem Lager gefangengehalten worden, bis es als letztes KZ am 9. Mai 1945 von sowjetischen Truppen befreit wurde. Etwa 65.000 von ihnen waren ermordet worden: erschossen, erhängt, vergast, durch Giftspritzen getötet, an Krankheiten verreckt oder schlicht verhungert. Frauen zählten in fast jedem KZ zum Personal, auch wenn sie deutlich in der Minderheit waren. Sie arbeiteten als Sekretärinnen und Reinigungskräfte, besorgten Küchendienste für die SS-Wachmänner oder taten, wie Christel R., Dienst in der Telefonzentrale. Besonders im Frauen-KZ Ravensbrück waren sie als Aufseherinnen im Einsatz. Manche hatten sich auf entsprechende Inserate in örtlichen Zeitungen beworben. Nur die wenigsten kündigten und suchten sich eine andere Arbeit, was ohne Sanktionen möglich war. Derzeit wird gegen zwei ehemalige Aufseherinnen von Ravensbrück ermittelt.
Aber welche Verantwortung tragen die Telefonistin Christel R. oder die heute 90-Jährige aus Lörrach? Einen „schwierigen Fall“, aber auch eine „spannende juristische Frage“ nennt der Stuttgarter Staatsanwalt Jan Holzner den Fall der Lörracherin. Man müsse bedenken, dass die Beschuldigte vom eigentlichen Mordgeschehen sehr weit entfernt war, sagt er. Jens Rommel, der Leiter der Zentralen Stelle zur Ermittlung von NS-Verbrechen, spricht von einem „Grenzfall“. Einerseits seien die Einflussmöglichkeiten der Telefonistinnen sicherlich begrenzt gewesen. Anderseits hätten sie wichtige Informationen wie etwa die Fahrplandaten von Deportationszügen weitergegeben und so dazu beigetragen, dass der Mordbetrieb aufrechterhalten werden konnte. Die Zentrale Stelle habe die entsprechenden Fälle an die Staatsanwaltschaften abgegeben, damit diese entscheiden können, inwieweit diese Anwesenheit in einem KZ-Mordbetrieb als Beihilfe zum Mord gewertet werden könne.
Christel R. wird sich nicht mehr vor einem irdischen Gericht verantworten müssen. Die taz erfuhr am Montag, dass sie jüngst verstorben ist.
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