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Wer hat Angst vorm blanken Hans?

Ein Viertel der Landfläche Schleswig-Holsteins ist von Überflutung bedroht. Noch schützen die Deiche. Doch was wird, wenn der Meeresspiegel steigt und das Watt ertrinkt?

Von Esther Geißlinger

Durchaus möglich, dass das Watt ertrinkt. Wann genau es so weit sein wird, ist unklar, vermutlich werden noch Jahrzehnte vergehen. Aber in Schleswig-Holstein wird bereits über dieses Szenario nachgedacht, das in der „Strategie Wattenmeer 2100“ beschrieben ist. Die Studie mit der langen Laufzeit untersucht und berechnet, was geschieht, wenn der Klimawandel den Meeresspiegel der Nordsee anstiegen lässt. Sehr wahrscheinlich wird die Sedimentschicht nicht im gleichen Tempo mitwachsen. Wo heute im Hin und Her aus Ebbe und Flut viele Quadratkilometer Fläche alle paar Stunden trocken fallen, werden sich Binnenlagunen bilden, im Watt entstehen Salzwasserseen. Die Folgen betreffen nicht nur das empfindliche Gleichgewicht der Pflanzen und Tiere im Wattboden, der so belebt ist wie ein tropischer Dschungel. Das Wattenmeer ist eine „Energieumwandlungszone“, in der sich Wogen totlaufen können. Die Inseln und Halligen wirken als Wellenbrecher und schützen das Festland.

„Eine der Lehren, die wir aus diesen Erkenntnissen ziehen: Sand ist kostbar“, sagt Hendrik Brunkhorst, Sprecher des Landesbetriebes für Küstenschutz in Schleswig-Holstein. Früher war es üblich, Sand für Deiche direkt aus dem Meer zu baggern. Heute wird er aus der tiefen See gegraben, um das Watt nicht zu schädigen. Und es gibt Überlegungen, frischen Sand ins Watt zu bringen – nur das Wie ist unklar. „Auf jeden Fall nicht tonnenweise per Bagger“, sagt Brunkhorst. „Das muss schon eine ökologisch weiche Maßnahme werden. Aber wir arbeiten daran.“

In Schleswig-Holstein, dem Land zwischen den Meeren, ist fast alles dicht am Wasser gebaut. Kiel, Lübeck und Flensburg sind Hafenstädte, das Binnenland ist von Flüssen durchzogen, die Köge an der Westküste liegen schon heute größtenteils niedriger als der Meeresspiegel. Alles in allem ist gut ein Viertel der Landesfläche von Überflutung bedroht. Über 350.000 Menschen leben in den Niederungen, die dort stehenden Sachwerte an Gebäuden, Straßen, Leitungen addieren sich auf rund 50 Milliarden Euro, heißt es im „Generalplan Küstenschutz“ des Umweltministeriums. Die Bedrohung durch das brandende Meer war im Lauf der Jahrhunderte stets so nah, dass die Schleswig-HolsteinerInnen sich sogar einen Spitznamen für die tosende Nordsee ausdachten: Blanker Hans.

In der jüngeren Vergangenheit erschien der Hans eher als Hänschen: „Die Deiche sind heute so sicher wie nie“, sagt Brunkhorst. Bei den jüngsten Sturmfluten, etwa 2013, sei es „nirgendwo dramatisch“ geworden, es gab kaum Schäden an den Bauwerken. Das Land steckt allerdings auch eine Menge Geld und Kapazitäten in die Erhaltung der Seedeiche. So beschäftigt das Landesamt für Küstenschutz über 700 Menschen, die den „ordnungsgemäßen Zustand der Küstenschutzanlagen“ überwachen und für Deichbau und -Erhaltung zuständig sind. Daneben arbeiten die Deich- und Hauptsielverbände, an deren Spitze die Deichgrafen – die auch heute noch so heißen – stehen.

Im Frühjahr und im Herbst finden überall an der Nordseeküste Deichschauen statt: Ein ganzer Tross von Leuten stapft in Gummistiefeln und Regenmänteln die Deiche herauf und herunter, begutachtet die Durchlässe, Sperrwerke und Pumpen, wiegt die Köpfe beim Anblick zertretener Grasnarben. Das wirkt etwas putzig, ist aber effektiv, weil auf diese Weise kein Meter Deich unbesehen bleibt. Seit einigen Jahren werden die Schutzwälle breiter gebaut, damit bei steigendem Meeresspiegel nur eine „Kappe“ aufgesetzt werden muss. Die neue, flache Form nennt sich „Klimaprofil“. Zum ersten Mal wurde 2015 ein Deich auf Nordstrand mit dieser Baureserve ausgestattet. 32 Millionen Euro kostete es, das Teilstück zu erhöhen und zu verstärken. Irgendwo im Land wird immer an einem Deich gebaut, nach den Erkenntnissen der Deichschauen und den Plänen des Landesbetriebs Küstenschutz. „Es gibt nicht eine perfekte Höhe für alle Deiche“, sagt Brunkhorst. Wie hoch ein Deich sein muss, hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab.

Droht eine Sturmflut, laufen Meldegänger die Deiche ab – immer paarweise ein Mitglied der freiwilligen Feuerwehr und ein Ehrenamtlicher des örtlichen Deichverbands. 150 Paare, 300 Personen, stehen laut Brunkhorst für diesen Dienst bereit. Allerdings berichteten Lokalzeitungen alle Weile, dass die Listen der ehrenamtlichen Deichläufer unvollständig oder veraltet sind. Teils stünden Personen darauf, die längst weggezogen oder gar verstorben seien. Behördensprecher Brunkhorst kennt die Gerüchte, hält sie aber für falsch: „Nach unseren Erkenntnissen gibt es genug Freiwillige.“

Dagegen spricht, dass in einer Studie der FU Berlin zum Katastrophenschutz in Schleswig-Holstein im Jahr 2030 mehrere Katastrophenschutzdienste wie Technisches Hilfswerk, Rotes Kreuz oder Malteser über fehlende Freiwillige klagen. Ein Problem: Wer aktiv ist, engagiert sich oft in mehreren Diensten gleichzeitig. So wird eine Person mehrfach als Hilfskraft ans Land gemeldet, kann aber im Ernstfall trotzdem nur für eine Tätigkeit eingesetzt werden.

Erst wenn über mehrere Flutperioden Wasser über den Deich läuft, besteht die Gefahr, dass der Wall von der Rückseite unterspült und damit brüchig wird

Solange die Sturmflut gegen die Deiche tobt, können Menschen ohnehin wenig tun: „Bei Sturm und Regen kann niemand auf dem Deich arbeiten“, sagt Brunkhorst. Eine einzelne Sturmflut schade in der Regel auch nicht. Erst wenn über mehrere Flutperioden Wasser über den Deich läuft, bestehe die Gefahr, dass der Wall von der Rückseite unterspült und damit brüchig wird. Bis zu zwei Liter Wasser dürfe pro Meter und Sekunde über die Krone schwappen, ohne dass die Stabilität in Gefahr ist, so die Berechnungen.

Tricks, die bei Binnendeichen helfen – Sandsäcke aufstapeln oder ein kontrollierter Durchbruch, um den Druck an anderer Stelle zu lindern –, bringen bei Seedeichen nichts: „Auch wenn ein ganzer Koog volllaufen würde, würde das den Meeresspiegel bestenfalls um Zentimeter senken“, sagt Brunkhorst. Aktuell sei aber nirgendwo ein Bruch zu befürchten.

Auch den Rettungs- und Katastrophenschutzdiensten bereiten Deiche nicht die größten Sorgen. Bei der jüngsten großen Katastrophenschutzübung im September trainierten 1.500 Einsatzkräfte für einen Tornado über dem Wacken-Open-Air-Festival.

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