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„Die Botschaft lautet: Du bist nicht schlau genug“

Der Hamburger Bildungsforscher Ulrich Vieluf hat die Abhängigkeit der Gymnasialempfehlung vom Sozialstatus der Eltern untersucht. Das Ergebnis: Dieses Instrument diskriminiert Kinder aus bildungsschwachen Familien

Interview Kaija Kutter

taz: Herr Vieluf, was spricht dagegen, dass Lehrer in Klasse 4 eine Empfehlung abgeben, ob ein Kind aufs Gymnasium soll oder nicht?

Ulrich Vieluf: Das ist ein sehr früher Zeitpunkt, um vorherzusagen, wie sich ein Schüler in den nächsten acht, neun Jahren entwickeln wird. Vor allem, weil viele Kinder in der 4. Klasse noch ein unausgeglichenes Leistungsprofil haben. Sie sind in einigen Kompetenzbereichen stark, während ihre Kompetenzen in anderen Leistungsbereichen noch nicht so weit entwickelt sind. Das braucht Zeit.

In Hamburg erhalten Viertklässler noch zum Zeugnis den Ankreuz-Bogen mit Feld für die Gymnasiumsempfehlung. Warum beteiligen Sie sich an der Kampagne „Grundschulempfehlung – Nein Danke!“?

Weil diese Empfehlung wie ein Pokal wirkt. Mit der Folge, dass Kinder, die diese Empfehlung nicht bekommen, eine Abwertung erfahren. Die Botschaft an diese Kinder lautet: „Du bist nicht schlau genug.“ Und diese Zuschreibung begleitet sie fortan.

Sie haben dazu geforscht und was herausgefunden?

Wir haben bereits 1996 in der sogenannten LAU-Studie den engen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft des Kindes und der Wahrscheinlichkeit, dass es eine Gymnasialempfehlung erhält, festgestellt. Wir hatten damals die Lernausgangslagen der Fünftklässler eines kompletten Schülerjahrgangs mit Schulleistungstests erhoben. Der von allen Kindern, die von ihrer Grundschule eine Empfehlung für den Gymnasialbesuch erhalten hatten, im Schnitt mindestens erreichte Leistungsstand betrug in dem Test 78 Punkte. Allerdings gab es gravierende Unterschiede: Für Kinder, deren Väter Abitur hatten, lag dieser Schwellenwert bei 65 Punkten, während Kinder, deren Väter einen Hauptschulabschluss hatten, mindestens 82 Punkte im Test erzielten. Diesen engen Zusammenhang mit der sozialen Herkunft finden wir seither immer wieder bestätigt.

Kinder aus bildungsfernen Familien müssen also viel schlauer sein, um die Empfehlung zu bekommen.

Viele Grundschullehrkräfte lassen sich dabei von der Annahme leiten, dass Kinder, die ein Gymnasium besuchen, auf die Unterstützung durch das Elternhaus angewiesen sind. Wenn sie die Eltern nicht in der Lage dazu sehen, tendieren sie dazu, lieber die Stadtteilschule zu empfehlen.

Haben die Lehrer nicht recht? Können Privilegierte es am Gymnasium besser schaffen?

Ulrich Vieluf

61, Psychologe und Lehrer, war Staatsrat in der Hamburger Schulbehörde zurzeit der Grünen-Politikerin Christa Goetsch. Er führte mehrere Studien durch, unter anderem die LAU-Studie zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und Gymnasialempfehlung.

Ja, auch das lässt sich empirisch nachweisen: In der Tat haben es Kinder aus sozial benachteiligten Milieus erheblich schwerer, den Anforderungen des gymnasialen Bildungsgangs gerecht zu werden. Allerdings gibt es hier deutliche Unterschiede zwischen den Stadtteilen, je nach deren Sozialstruktur. In Stadtteilen mit einem niedrigen Sozialindex sind die Chancen für Kinder aus benachteiligten Familien deutlich höher als in sozial eher privilegierten Stadtteilen. Und umgekehrt gilt: In Stadtteilen mit einem hohen Sozialindex haben Kinder es schwerer, für gute Leistungen auch gute Noten zu bekommen.

Wie sollte Schulpolitik reagieren?

Ich finde es unzumutbar, von Lehrkräften zu verlangen, nach nur dreieinhalb Jahren Schulzeit eine folgenreiche Prognose über die weitere Entwicklung von Kindern geben zu sollen. Für eine große Gruppe von Kindern ist dies zu diesem Zeitpunkt schlicht nicht möglich. Entsprechend müssten die Lehrkräfte ehrlicherweise sagen: „Tut mir leid, aber ich kann auf Grundlage aller mir zur Verfügung stehenden Informationen nicht sagen, ob dieses bestimmte Kind den Anforderungen des gymnasialen Bildungsgangs gewachsen ist oder nicht.“ Und ich wünschte mir, dass auch die Lehrerverbände lautstark gegen diese Zumutung protestieren. Das Hamburgische Schulgesetz jedenfalls verlangt sie nicht.

Wären es ohne Kreuz-Empfehlung noch mehr Kinder am Gymnasium, die scheitern?

Die Sorge kann man haben. Deshalb sprechen sich manche Schulleiter an Hamburger Stadtteilschulen auch für den Erhalt des Kreuzes aus. Sie fürchten, dass bei Verzicht auf eine Empfehlung der Grundschule noch mehr Eltern ihr Kind am Gymnasium anmelden würden. Mit der Folge, dass nach Jahrgang 6 die Zahl der Wechsler noch größer werden wird.

Und – ist an diesen Befürchtungen was dran?

Ich teile diese Sorge nicht. Aufgabe der Lehrkräfte ist es, Eltern vor dem Hintergrund der bisherigen Lern- und Leistungsentwicklung zu beraten. Dafür sind Kompetenzraster, die differenziert über die in den verschiedenen Kompetenzbereichen erreichten Lernstände informieren, gut geeignet. Je besser Eltern informiert werden, desto qualifizierter werden sie die Schulformwahl treffen. So aber nimmt man eine nicht gerechtfertigte Entmutigung von Kindern in Kauf.

„So nimmt man eine nicht gerechtfertigte Entmutigung von Kindern in Kauf“

Ulrich Vieluf, Bildungsforscher

In Niedersachsen gab es bis 2015 sogar drei Empfehlungen: für die Hauptschule, für die Realschule, fürs Gymnasium.

Damit wird die Fehlerquote nur noch höher: Grundschullehrkräfte können bei neunjährigen Kindern keine hinreichend belastbare abschlussbezogene Prognose vornehmen. Im Übrigen ist sie auch nicht mit dem Bildungsauftrag vereinbar. Der gesetzliche Bildungsauftrag besagt, Kinder so zu fördern, dass sie ihr Potenzial bestmöglich entwickeln und so den höchstmöglichen Schulabschluss erwerben können. Dies entspricht einem zeitgemäßen Begabungsbegriff, wonach Begabung als durch Förderung in lernanregenden Umwelten veränderlich angesehen wird.

Aber es gibt die Schulformen Haupt- und Realschule dort noch. Reagiert nicht so eine Hauptschul-Empfehlung nur auf die Gliederung des Systems?

Das dreigliedrige Schulsystem fußt noch auf abschlussbezogenen Bildungsgängen. Die ihm zugrunde liegenden Annahmen über Begabung haben sich empirisch als nicht tragfähig erwiesen. Oftmals sind es soziale Barrieren, die die Lern- und Leistungsentwicklung beeinträchtigen. Schule kann diesen Barrieren entgegenwirken, beispielsweise durch eine gezielte individuelle Lern- und Förderplanung. Und genau das ist ihr Auftrag.

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