„Die Leute wissen, wen sie wählen“

Der Wahlerfolg der AfD im Osten sei mit den Demütigungen nach der Wende nicht entschuldbar, sagt Markus Nierth, Exbürgermeister des Dorfs Tröglitz

Protest gegen Angela Merkel in Bitterfeld Foto: Christian Mang

Interview Thomas Gerlach

taz: Herr Nierth, in der Gemeinde Elsteraue in Sachsen-Anhalt, zu der das Dorf Tröglitz gehört, hat die AfD 28,6 Prozent der Stimmen erhalten. AfD-Wähler erheben oft den Vorwurf: Die anderen Politiker hören uns nicht mehr zu, darum wählen wir die Rechtspopulisten. Haben sie recht?

Markus Nierth:Das ist so pauschal formuliert falsch. Und der Vorwurf dahinter ist oft auch ein anderer: „Die Politiker machen nicht das, was wir wollen!“ Das erinnert mich an ein Verhalten, wie ich es von Kindern und Pubertierenden kenne: Ich will das haben, was ich mir in den Kopf gesetzt habe, und wenn ich das nicht kriege, stampfe ich mit dem Fuß auf und überschreite Grenzen. Das geht so aber nicht. Demokratie basiert auf Mehrheitsentscheidungen.

Sie meinen, diese Wähler haben die Regeln der Demokratie nicht begriffen?

Viele Menschen in meinem Umfeld sind nach 27 Jahren noch nicht als selbstverantwortliche Bürger in der Demokratie angekommen. „Mutti Merkel“ funktioniert nicht so, wie man das haben möchte. Besser wäre es doch, der Mensch wird mündig und braucht die „Mutti Merkel“ gar nicht mehr, weil er sein Umfeld selbst gestaltet. Die Leute, die bei uns in Tröglitz 2015 mit der NPD marschiert sind und gegrölt haben, das waren eben nicht diejenigen, die durch ehrenamtliches Engagement „für ihr liebes Vaterland“ aufgefallen sind.

Warum werden diese Menschen Ihrer Meinung nach nicht mündig?

Ich nehme immer stärker wahr, dass einige meiner Landsleute mit der Kultur der Demokratie, dass man etwa Kompromisse findet, dass man sich als mündiger Bürger tatkräftig einbringt, nie warm geworden sind. Eine lebendige Demokratie ist in vielen Herzen und offensichtlich manchen Gebieten niemals angekommen.

Die demokratische Kultur des Westens blieb fremd?

Man hat 1990 gern die ­D-Mark genommen und die Reisefreiheit und die Westautos. Aber dass Demokratie bedeutet, sich zu engagieren, dass man die neu gewonnene Freiheit selbstverantwortlich mitgestaltet – das ist leider von vielen ausgeblendet worden.

Ausgeblendet wurden im Westen aber auch die schweren Verwerfungen, die der Prozess der Vereinigung mit sich gebracht hat. Rächt sich das jetzt?

Ich habe großes Verständnis für die starken Verletzungen, die Menschen erfahren haben, als sie nach 1990 ihre Arbeit verloren und etwa ihre Betriebe noch selbst abreißen mussten. Das hat furchtbare Ängste, Demütigungen und Traumata verursacht. Es gibt viele, die es nicht mehr geschafft haben, krank wurden. Ich habe einige von ihnen beerdigt. Ich kann das von ganzem Herzen verstehen.

Aber?

Man kann das nicht immer damit entschuldigen, weil die Abgehängten und Verletzten eben nur einen Teil der AfD-Wähler ausmachen. Ich stelle bei mir eine gewisse Begrenzung für ewiges Verständnishaben fest.

Warum?

Vielen AfD-Wählern geht es materiell durchaus gut. Ich habe das bei Pegida-Demonstrationen erlebt, wie gutsituierte Leute, Rentner, Ingenieure mich ansprachen und die ganze Zeit über Geld lamentierten, das Frau Merkel angeblich für die Flüchtlinge verschwende. Als ich nachfragte, ob es ihnen finanziell so schlecht ginge, sagten viele, sie hätten gut ausgesorgt. Auf meinen Rat hin, dann doch lieber auf ihre verbitterten Herzen zu achten, die immer härter und hasserfüllter werden, weil dies sie letztlich viel mehr kosten könnte – dieses und vielleicht noch das jenseitige Leben –, da war mancher sprachlos. Da steckt kein materieller Frust dahinter, sondern ein kultureller.

Was meinen Sie damit?

Sie wollen ihre alte „heile Welt“ behalten. Sie nehmen zwar das Positive an Globalisierung und Liberalisierung mit. Aber die Öffnung zur Welt, mehr Toleranz gegenüber fremden Kulturen, das verweigern sie und halten fest an ihrer kleinbürgerlich-bornierten Vorstellung. Dahinter steckt ganz oft ein seelischer Frust über sich selbst und eine gewisse Hartherzigkeit. Und Hartherzige suchen immer die Schuld bei anderen.

Lässt sich im Osten das Kleinbürgerliche mit dem kulturellen Erbe der DDR erklären?

Hinter diesem Verhalten steckt sicher auch eine Prägung der DDR. Politische Unmündigkeit wurde belohnt. Aber jetzt politische Mündigkeit in Anspruch zu nehmen, um dauermotzend die Demokratie zu zerstören, das empfinde ich als unanständig.

Sind das Protestwähler?

Die Leute wissen doch, wen sie da wählen. Sie kennen die Sprüche. Und mit ihrer Wahl stärken sie Holocaustleugner, Geschichtsrevisionisten und Leute, die die „Ehre“ des deutschen Soldaten wiederherstellen wollen. Man stärkt gerade das, was man in der DDR fast gebetsmühlenartig verurteilt hat. Viele derer, die damals „Nie wieder Faschismus!“ gerufen haben, unterstützen jetzt Rechtsextremisten. Wenn es deshalb mit der Wirtschaft und dem Tourismus bergab geht, dann ist das die konsequente Folge.

AfD-Wähler sehen sich gern in der Tradition vom Herbst 1989. Zu Recht?

Ein paar mögen 1989 dabei gewesen sein. Es sind nach meiner Wahrnehmung aber vor allem Leute, die sich damals erst spät, als es schon ungefährlich war, auf die Straße getraut haben. Die alten Bürgerrechtler schämen sich zutiefst, wenn heute ihr Ruf „Wir sind das Volk!“ so furchtbar missbraucht wird. 1989 war schließlich eine Freiheitsbewegung.

Und was ist das heute?

Foto: dpa

Markus Nierth, 48, trat 2015 nach rechten Drohungen als Bürgermeister zurück.

Heute scheint Sicherheit wichtiger als Freiheit. Man konnte eh nicht so recht mir ihr umgehen, sie blieb – wie die Demokratie – etwas unbewusst Bedrohliches. Das ist das Erschreckende! Wahrscheinlich ist dies ein Erbe der Gehorsamsstrukturen, die jede Diktatur hinterlässt.

Was können die anderen Parteien dagegen tun?

In Tröglitz kam von den Parteien vor Ort keinerlei Zivilcourage. Eine Ausnahme sind die Linken, die sich klar positionieren und auch was riskieren. Grüne und SPD sind hier praktisch nicht vorhanden. Und die CDU duckt sich peinlich weg. Nur wenige, wie unser Landrat zum Beispiel, leben mutig lebendige Demokratie vor. Die meisten geben lieber den stillen Funktionärstyp ab. Wir brauchen aber jetzt Kämpfer, aufrechte Demokraten, glaubwürdige Leute, denen ihre Freiheit noch etwas wert ist.

Woher soll diese Haltung kommen?

Es liegt ja offensichtlich ein sträfliches Versagen unserer Landesregierung in Sachsen-Anhalt und in Sachsen vor. Man hat sich wohl naiv darauf verlassen, dass mit dem materiellen Wohlstand auch automatisch die politische Haltung kommt.

Was wäre denn nötig?

Dass man Zeitzeugen in die Schulklassen schickt. Dass man nicht in den Erlebnispark fährt, sondern auch in das Stasi-Gefängnis nach Berlin-Hohenschönhausen oder nach Bautzen. Wir haben Zentren für politische Bildung, gute Programme, nur die Lehrer nehmen dies kaum in Anspruch. Hier müssten die Schulen von der Politik zur Umsetzung verpflichtet werden.

Werden Sie Ihre politische Arbeit verstärken?

Mit Sicherheit. Die „Protestwähler“ haben nun den rechten Verführern, den Demagogen wie Kubitschek, Höcke und Poggenburg, Dutzende Millionen Steuergeld für die nächsten Jahre in die bisher klammen Kassen gespült, dass die in Seelenruhe einen schlagkräftigen Apparat aufbauen können, der die Untergrabung unserer Demokratie vorantreiben wird – um uns laut Gauland „zu jagen“. Das macht wütend, das spornt mich und meine Familie richtig an, dem laut zu widersprechen!