Der Einbruch des Realen, ein Wink der Götter

Die Ideen sprühen auf allen Ebenen: Gut, dass Gerhard Falkners „Romeo oder Julia“ auf der Shortlist des Buchpreises vertreten ist

Die Frisur als Indiz für popkulturelles Wissen, Punk-Reminiszenz: Gerhard Falkner Foto: Isolde Ohlbaum

Von Ulrich Gutmair

Kurt Prinzhorn ist ein hellwacher Lyriker und Bohemien. Sein Wahrnehmungsapparat ist stets scharf gestellt und offen für erotische Sig­nale. Seine Liebe zu den Frauen bleibt nicht folgenlos. Bei einem Kongress in Innsbruck werden ihm sein Schlüsselbund und seine Notizen gestohlen. Zurück bleiben lange schwarze Haare in der Badewanne seines Hotelzimmers. Wie sich bald herausstellt, wird er von einer mysteriösen Frau verfolgt.

Prinzhorn reist weiter, um Vorträge in Moskau und Madrid zu halten, und überall hinterlässt die Frau mit den schwarzen Haaren Spuren, rätselhafte Mitteilungen, die nur den Schluss zulassen, dass die Verfolgerin mit Kurt Prinzhorn eine Rechnung zu begleichen hat. Die Frage ist nur, wofür er bezahlen soll. Zwischendurch scheint Prinzhorn, der nun noch nervöser als sonst in die Welt hineinhorcht, kurz gewahr zu werden, dass der Autor oder ein Lesender ihn bei seinem Tun beobachtet, was den Leser für einen kurzen Moment schockiert und dann amüsiert, wie so manche Wendung, die dieser Text nimmt.

Anlass für die Geschichte, die Gerhard Falkner in „Romeo oder Julia“ erzählt, ist eine wahre Begebenheit. In einer Nachbemerkung schreibt Falkner: „Die geschilderten Vorfälle haben in allen Details so stattgefunden. Bei dem Einbruch in mein Hotelzimmer in Tirol wurden alle meine Schlüssel sowie anschließend meine Messenger-Bag von Vaude mit meinen persönlichen Papieren, Unterlagen und meinen Arbeitsbüchern entwendet. Nichts von alledem ist je wieder aufgetaucht. Anzeige wurde nicht erstattet.“

Für einen Schriftsteller wie Gerhard Falkner dürfte dieser Einbruch des Realen in die eigene Lebenserzählung so verstörend wie für seinen Protagonisten gewesen sein. Aber auch ein Wink der Götter, sich die Geschichte eines Lyrikers auszudenken, der, Kind seiner Zeit, der Literatur so viel verdankt wie der Popkultur, der Theorie und der Kunst. Man stellt sich diesen Prinzhorn als einen jener Punks vor, die in den Fünfzigern geboren wurden, und die autoritäre Biederkeit der Bundesrepublik als Folge der Zerrüttung der bürgerlichen Verhältnisse durch den Nationalsozialismus als Kinder erlebten. Die sich in der Pubertät von amerikanischem Pop und antiautoritärer Bewegung befreien ließen. Die als junge Erwachsene den Medien, die mehr und mehr die gesellschaftliche Wirklichkeit überwölbten, mit dem geübten Blick des Semiotikers aufs Maul schauten.

Dem ersten Anschein nach ist „Romeo oder Julia“ ein traditionell erzählter Roman mit einem Ich-Erzähler. Die Sprache ist einfach, Klischees werden in ironischer Absicht zitiert. Die Dialoge sind knapp und gewitzt, an amerikanischen Filmen und Literatur geschult. Das verwundert nicht, ist Gerhard Falkner doch ein ausgewiesener Kenner der US-amerikanischen Literatur, Fan von Faulkner und Nabokov und Herausgeber der Antholo­ie AmLit. Unter anderem hat er „Only Revolutions“ von Mark Z. Danielewski übersetzt, ein Werk, das Falkner für die literarische Spiegelung des rasenden Stillstands hält, den Virilio der Gegenwart attestiert hat.

Beim Schriftstellertreffen in Innsbruck scheitert Kurt Prinzhorn daran, mit einer Kollegin anzubandeln. Später, in Madrid, knüpft er an eine Affäre mit einer Frau aus der Bourgeoisie an. Dazwischen, in Moskau, wo ihn ein deutsch-russisches Lyrik-Symposium erwartet, stellt er fest, dass der Kapitalismus zwar erste Gewinner hervorgebracht hat, es mit der Sublimierung in der postsowjetischen Gesellschaft aber noch nicht so weit her ist.

Nebenbei geht es hier wie anderswo im Text auch um den Kulturbetrieb, den Falkner immer wieder polemisch attackiert hat, etwa in seinen einflussreichen Thesenwerk „Über den Unwert des Gedichts“ von 1993, oder in den „(47) Sätzen gegen die Unruhe“ von 2008. Dort schrieb er: „Sich wichtig machen und von Bedeutung sein sind zwei paar Stiefel, aber es gibt ja in unserer Sparte genügend Vierbeiner, um nicht zu sagen Kriecher, die sich alles anziehen.“

Falkners Kunst besteht darin, wie ein guter Popmusiker die Simplizität der narrativen Form mit Raffinesse zu nutzen, um mittels erzählerischer Abschweifung, Namedropping, kunsthistorischer Exkursionen, etwa über „Las meninas“ von Velázquez, eine zweite Ebene der Ideen und ihrer Geschichte einzuziehen. Wo immer sich Prinzhorn gerade befindet, er beobachtet mit ausgefahrenen Antennen seine Umgebung und wartet immer wieder mit überraschenden soziologischen Theorien auf.

Auf einer dritten Ebene schließlich macht sich Gerhard Falkner ein Vergnügen daraus, den Text selbst von anderen Texten inspirieren zu lassen. So wirft er etwa einen lockeren Satz im Geiste Ortega y Gassets hin, wenn sein Protagonist kurz davor ist, in die Madrider Calle Ortega y Gasset einzubiegen. Dabei konfrontiert er die erhabenen Gedanken des männlichen Denkers mit der Realität, an der die Frauen immer näher dran sind: „Unermüdlich arbeiteten hinter den Dingen, an denen ich vorbeikam, die Grundmaschinen der Existenz, die seit Jahrtausenden mit Menschenleben gefüttert werden, und die Stadt stürzte ihre taube und ornamentale Masse auf dieses unterirdische Magma von Lebensgier, Kampf, Wille, Lust und Bewegung. ‚Da bist du ja endlich’, sagte Elsa und schaute auf die Uhr.“

Gerhard Falkner: „Romeo oder Julia“. Berlin Verlag, Berlin 2017. 272 Seiten, 18,99 Euro

Es macht Spaß, sich diesen literarischen Prozess anzuschauen. Dabei keimt im Leser immer stärker der Verdacht auf, dass man einen großen Teil der halb offenen, halb versteckten Verweise und Anspielungen gar nicht erkennen kann, weil der Autor weitaus belesener ist als man selbst.

Nicht zuletzt scheint in der Figur des Ich-Erzählers, der eine geradezu heroische Distanz zu diesem seinem Ich an den Tag legt, der Lyriker und Essayist auf, der auch Falkner Jahrzehnte lang gewesen ist, bevor er vor einem Jahr mit einem grandiosen Roman hervorgetreten ist, der vielleicht erst im Abstand sein wahre Größe zeigt. „Apollokalypse“ ist für die Achtziger in Westberlin was „Bleeding Edge“ für das New York der Nullerjahre war, ein Monument. Darin fängt Falkner die Denkfiguren und politischen Konflikte der Epoche ein.

Nun also gesellt sich diesem großen Roman ein (formal!) kleiner dazu, der ironischerweise aber erfolgreicher ist, was die literaturbetrieblichen Weihen angeht. „Apollokalypse“ wurde, anders als „Romeo oder Julia“, nicht in die Shortlist des Frankfurter Buchpreises aufgenommen. Dieses eklatante Versäumnis lässt sich nicht wiedergutmachen.

Kurt Prinzhorn wird am Ende von „Romeo oder Julia“ mit der Erkenntnis konfrontiert, dass auch er etwas versäumt hat, ohne es zu wissen. Die bis dahin muntere Geschichte endet mit der mulmigen Frage, die sich oft im Grau der Wirklichkeit stellt: Was muss man sich als Handelnder und Nicht­handelnder selbst als Vergehen, Fehler oder gar Schuld zuschreiben? Was ist den Kontingenzen geschuldet, die uns Menschen heimsuchen wie ein rätselhafter Einbrecher? Früher hat man das Schicksal genannt.