: Ich wähle, also bin ich – über 18
Erstwähler Rund 99.000 BerlinerInnen zwischen 18 und 21 Jahren können am Sonntag zum ersten Mal den Bundestag wählen.Sie stimmen häufiger für Linke und Grüne als Ältere, unterstützen aber auch Kanzlerin Merkel – und sorgen sich um ihre Zukunft
von Anna Klöpper
Sie gehen weniger beflissen an die Wahlurnen als ihre Eltern. Sie wählen, insbesondere in Großstädten, eher Grün oder Links. Aber wenn sie am kommenden Sonntag bei der Bundestagswahl lediglich die Wahl hätten zwischen Angela Merkel und Martin Schulz, dann würden sie die Kanzlerin ihrer Kindheit wählen. Das ist, so kurz wie verknappt, das, was die Statistiken und Umfragen der Wahlforscher über diejenigen sagen, die am Sonntag zum ersten Mal über die Zusammensetzung des Bundestags entscheiden dürfen.
Die Generation der Erstwähler: 2017 sind das die kurz vor der Jahrtausendwende geborenen, die zwischen 18 und 21 Jahre alt sind. In Berlin dürfen rund 99.000 junge Menschen der „Generation Merkel“, wie das Feuilleton diese Altersgruppe gerne verschlagwortet, ihre Stimme abgeben.
Eine von ihnen ist Gamze, 20 Jahre alt, Neuköllnerin. Es scheint sie nicht sonderlich zu überraschen, dass laut einer Forsa-Umfrage 57 Prozent ihrer Altersgenossen für die Kanzlerin stimmen würden und nur 21 Prozent für Martin Schulz. Warum diese Zuneigung zu Merkel? „Ich glaube, meiner Generation ging es einfach immer ziemlich gut. Wir haben nichts Schlimmes erlebt – und da denken sich sicher viele: Wählen wir die Merkel, die kennen wir.“ Gamze, die ihren Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen will, sagt aber auch: „Gleichzeitig ist da bei uns schon viel Zukunftsangst.“
Die Angst davor, nach dem Studium – bei Gamze ist es Modemarketing – ohne Job dazustehen. Die Angst, sich das Wohnen in den Innenstädten nicht mehr leisten zu können. Die Angst vor dem Verlust eines gewissen Lebensstandards. Gamze wohnt noch bei ihrer Mutter, die Suche nach einer eigenen bezahlbaren Einzimmerbleibe gab sie kürzlich vorerst wieder auf. „Vielleicht sucht meine Generation da irgendwie nach Sicherheit, indem wir das wählen, was wir kennen.“
Bei der bundesweiten U18-Wahl am Freitag wurde die Union stärkste Kraft: 28,5 Prozent stimmten bei der traditionellen Jugendwahl neun Tage vor der regulären Wahl für CDU/CSU. Die SPD kam auf 19,8 Prozent, die Grünen auf 16,6 Prozent. Die Linke lag bei 8 Prozent. 2013 hatte es ein beinahe identisches Ergebnis gegeben – nur die AfD hat sich inzwischen von 1,5 auf 6,8 Prozent verbessert.
In Berlin bekamen die Grünen sogar, gleichauf mit der SPD, knapp 21 Prozent – der Bundestrend sieht die Grünen lediglich bei 8 Prozent. Die CDU bekommt von der Berliner Jugend gerade mal 23 Prozent, der Bundestrend sieht sie bei 36 Prozent.
Bundesweit stimmten 220.000 Kinder in 1.662 Wahllokalen über „ihren“ Bundestag ab. Veranstaltet wird diese Aktion zur politischen Bildung unter anderem vom Deutschen Bundesjugendring. (akl)
Sie selbst findet „den Gedanken gut, eine Frau als Bundeskanzlerin zu haben.“ Und auch in der Flüchtlingspolitik habe Merkel „viel richtig gemacht“. Wählen wird sie sie trotzdem nicht: Gamze war kürzlich auf einer mietenpolitischen Veranstaltung in ihrem Kiez, und was der Direktkandidat der SPD in ihrem Wahlbezirk dort über Gentrifizierung und Mieterschutz, dem wohl wichtigsten politischen Zukunftsthema dieser Stadt, zu sagen hatte, fand sie überzeugend. „Das Mietenthema interessiert mich inzwischen sehr“, sagt sie.
Ganz ähnlich wie die 20-Jährige erklären sich die Sozialforscher das Merkel-Phänomen in Gamzes Generation. „Die fehlende Unzufriedenheit ist sicher ein Grund, warum es sie zumindest nicht wegstößt von der Union“, glaubt Aiko Wagner, Demokratieforscher am Wissenschaftszentrum Berlin. Natürlich sei das „eine sehr risikoaverse Argumentation“. Aber vielleicht, sagt er, „ist es ja auch eine risikoaverse Generation“. Auf Stabilität bedacht, weniger politisiert als die Eltern – das sind die gängigen Zuschreibungen für die „Generation Merkel“.
Jule Kautt, 18 Jahre alt, Schülerin aus Prenzlauer Berg, legt skeptisch die Stirn in Falten, wenn man ihr diese Stichworte hinwirft. „Ich weiß nicht, ob wir alle wirklich so viel unpolitischer sind als unsere Eltern.“ Mit ihren Freunden diskutiere sie viel über die AfD und den Rechtsruck in Europa. „Wir fragen uns schon: Wie sollen wir uns wehren?“ Auch Gamze sagt: „Wir sind politisch interessiert. Allerdings gehen wir nicht mehr so leicht für oder gegen etwas auf die Straße.“ Kautt sagt: „Wir haben vielleicht einfach weniger Zeit zu demonstrieren als unsere Eltern damals.“
Gamze, 20, Erstwählerin
Nur 58 Prozent der Erstwähler gaben bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen im September 2016 ihre Stimme ab – insgesamt lag die Wahlbeteiligung bei 68,5 Prozent. Demokratieforscher wie Wagner erklären den Unterschied damit, dass „das Verständnis von der Bürgerpflicht, wählen zu gehen, bei Älteren ausgeprägter“ sei. Auch die Parteibindung sei stärker im Alter.
Das wiederum dient auch als eine Erklärung, warum die Jugend, insbesondere in Großstädten, überdurchschnittlich häufig Linke und Grüne wählt (siehe Kasten): „Der freie, liberale Geist der Großstadt zieht natürlich gerade bei jungen Leuten auch ein dementsprechendes Publikum an“, sagt Wagner.
Jule Kautt sagt, sie wähle Grün. Ein bisschen, weil sie „zu Hause so sozialisiert wurde“; ein bisschen, weil der Klimawandel das drängendste Zukunftsthema für sie ist und der Dieselskandal sie ehrlich empört. „Leider“, erklärt sie, „gibt es da gerade keine bessere Partei für mich als die Grünen.“
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