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„Jeder Mensch hat Schwächen“

Einschulung Erstklässler machen sich auf den Weg in die Leistungsgesellschaft. Der Osnabrücker Schul-psychologe Thomas Künne spricht über die Unsicherheit von Kindern, Eltern und Lehrern beim Schulstart

Rät zu mehr Gelassenheit beim Ernst des Lebens: Schulpsychologe Thomas Künne Foto: Harff-Peter Schönherr

Interview Harff-Peter Schönherr

taz: Herr Künne, Erstklässler klingt auf den ersten Blick ja niedlich. Nach selbstgebastelter Schultüte, Gesang und Spiel im Klassenzimmer. Aber trotz aller Verklärung: Die Einschulung ist der Eintritt in die Leistungsgesellschaft. Nicht lange, und Stress baut sich auf.

Thomas Künne: Viele Erstklässler haben Probleme mit der Einforderung von Selbstkontrolle, der Abgabe von Selbstbestimmung. Und viele Eltern denken: Jetzt wird mein Erziehungsverhalten evaluiert! Bekommt das Kind das erste Zeugnis, sehen sie darin auch ein Zeugnis für sich selbst. Da das natürlich so gut wie möglich ausfallen soll, versuchen sie, ihr Kind von Beginn an zu optimieren, und das verursacht Druck.

Druck, von dem Sie abraten. Aber Tatsache ist doch, das in der Grundschule alles auf die Selektion in Klasse 4 hinausläuft. Und wer heute kein Abitur macht, dem sind weite Teile der Arbeitswelt verschlossen.

Optimierung ist natürlich verlockend. Jede Berufsausbildung wird ja noch immer als weniger wertig empfunden als jeder Hochschulabschluss – obwohl das natürlich Unsinn ist, nicht nur ethisch. Aber wer sein Kind zu sehr pusht, merkt schnell: Das hat wenig Aussicht auf Erfolg, gerade in den ersten Schuljahren. Die Gesellschaft baut schon genug Druck auf, da muss das nicht auch noch das Zuhause tun. Wenn ich eine Zitrone bis zum letzten Tropfen auspresse, ist nachher nur noch die leere Schale übrig.

Wie sieht die ideale Hilfe aus?

Motivation. Nicht sagen: Sieh mal, das hier hast du noch nicht geschafft! Sondern: Sieh mal, was du schon alles geschafft hast! Zuversicht säen, Selbstvertrauen aufbauen. Und ruhig aushalten, dass das Kind auch mal Frustrationserfahrungen macht. Krisen helfen, Krisen bewältigen zu lernen. Auch Negatives trägt zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Mit Sorgen, die man sich über die Schulsituation macht, nicht das Kind belasten. Auf Ermutigung setzen!

Kein Lob?

Lob kann zur Gewohnheit werden. Wenn es ausbleibt, blockiert das, das Kind macht dann nichts mehr ohne. Ermutigung ist nachhaltiger. Weil sie den Weg zum Ziel betont, der mir auch in Zukunft hilft.

Und was, wenn das Kind trotzdem denkt: Mist, ich bin ein Versager!

Dann muss man ihm zeigen: Jeder Mensch hat Schwächen. Und eine Schwäche ist nur etwas Punktuelles, sagt nichts Grundsätzliches über dich aus.

Ich lerne fürs Leben, heißt es ja, nicht für die Schule. Andererseits empfinden viele den Lernstoff der Schule als lebensfern. Was soll Schule nun in erster Linie leisten? Durch Normierung auf ein Funktionieren in der Gesellschaft vorbereiten? Oder auf die Kompetenz zielen, das Leben selbst meistern zu können?

Da wechseln die Meinungen, das kommt und geht in Wellen. Derzeit gewinnt die Selbstwirksamkeit wieder an Bedeutung, eine ganzheitlichere Sicht. Die Forschung sagt: Je direktiver die Einwirkung, je stärker die Normierung, desto schlechter können die meisten Menschen lernen, zumal Grundschüler.

Ganzheitliches Lernen, Schule ohne Druck. Klingt gut. Aber Realität sind auch Hausaufgaben bis in die Abendstunden, Erstklässler, die schon in drei Fächern zur Nachhilfe gehen.

Klar, nicht alle Probleme lassen sich im Elternhaus lösen. Wenn’s wirklich heikel wird, muss man natürlich intervenieren.

Wenn Sie allen Erstklässlern einen Satz mit auf den Weg geben: Welche wäre das?

Egal, ob es schwierig wird: Ihr schafft das!

Und für die Eltern?

Thomas Künne

ist schulpsychologischer Dezernent bei der Niedersächsischen Landesschulbehörde in der Regionalabteilung Osnabrück.

Zuversicht wirkt stärker als Überfürsorge, Optimierung, Kontrolle.

Und für die Lehrer?

Kinder sind Kinder, keine Erwachsenen!

Zum Schluss ein Satz von Reformpädagogin Maria Montessori: „Schule ist jenes Exil, in dem der Erwachsene das Kind solange hält, bis es imstande ist, in der Erwachsenenwelt zu leben, ohne zu stören.“ Ist da was dran?

Ich glaube schon. Indem Schule ein Schonraum ist, in dem ich mich ausprobieren kann, ein Ort essenzieller Lernerfahrungen nicht zuletzt über das Funktionieren von Gesellschaft. Wenn ich das erst später lerne, als Vorstandsvorsitzender eines großen Konzerns zum Beispiel, kann ich viel Schaden anrichten.

Aber übt Montessori hier nicht auch Kritik am System Schule? Indem sie sagt: Schule erzieht Kinder zu kleinen Erwachsenen, damit sie möglichst reibungslos funktionieren?

Sagen wir so: Schule, beginnend mit der Grundschule, bereitet auf die harte Realität vor, in kleinen Dosen.

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