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Sehnsucht nach türkischen Galanen

Medien Die regelmäßige Datenlieferung von „El Paquete“ mit seinen Serien ist für viele die einzige Chance zum Abschalten

Von Aracelys Avilés Suárez

Die Müdigkeit, der Wassermangel, das Nicht-wissen-was-man-kochen-soll und sogar der Ammoniakgeruch aus der Matratze des jüngsten Kindes – all das scheint wie weggeblasen, wenn Karaman auf dem Bildschirm erscheint. „Schau den Mann an – der macht wirklich alle fröhlich“, versichert Mary Díaz, 39 Jahre alt aus dem Reparto Sueño, einem der zentralsten Viertel von Santiago de Cuba.

Sie sagt, sie hat schon 50 türkische Serien im paquetegesehen, der wöchentlichen Datenlieferung mit Serien, Filmen, Informationen, die über Festplatten und USB-Sticks verteilt werden. Das sind ihre Lieblingsserien, und jetzt sieht sie 13 andere, darunter eine kolumbianische und eine brasilianische. Zwei oder dreimal die Woche lädt sie die neuen Folgen auf ihren USB-Stick, im Haus von „Annie“, der jungen Frau, die immer mittwochs und samstagmorgens eine Festplatte voll mit Daten erhält und vier Gigabyte Inhalt für 5 kubanische Pesos verkauft, umgerechnet rund 20 Cent.

Mary arbeitet in der Apotheke eines Kinderkrankenhauses, und mit ihrem Mann und drei Kindern lebt sie in einem leerstehenden früheren Benzinlagerschuppen. Da gibt es nur Platz für ein Bett, eine Liege, eine Wiege, zwei oder drei Möbelstücke und ein Quadratmeter Badezimmer mittendrin, ohne Wände oder Türen. Sie geht nicht ins Kino und sieht auch nicht fern. Aber sie ist diejenige in der Familie, die den Inhalt ihres Sticks am häufigsten aktualisiert.

Sahay Fajardo, eine Soziologin, die in ihrer Freizeit einem Verkäufer des paquete genau im Viertel Reparto Sueño hilft, erzählt, dass nach ihrer Beobachtung immer die Frauen die treuesten Kunden sind. „Das sind im allgemeinen Leute, die weder die WLAN-Hotspots aufsuchen noch mit der Technik klarkommen“, sagt sie.

Die Journalistin und Hochschullehrerin Dayne Fonseca hat für ihre Abschlussarbeit eine Untersuchung in San Pablo vorgenommen, einer Siedlung in prekären Konditionen, weit weg vom Stadtzentrum Santiagos. Auch dort waren es die Frauen, die am meisten el paquete konsumieren, vor allem diejenigen zwischen 21 und 45 Jahren. Aber sie sagt auch, dass die Männer nicht gern über das paquete sprechen, was aber nicht heißt, dass sie es nicht auch konsumieren.

„Die Frauen sehen sich gern als Chefinnen in einer Art Matriarchat, als starke, selbstbewusste Frauen. Die Männer hingegen zieht Opulenz an, materieller Wohlstand, zu dem sie keinen Zugang haben. Einer von ihnen hat mir gesagt, dass die [Protagonisten aus den Geschichten] sechs Frauen haben, sich jeden Tag ein neues Auto kaufen, während er selbst am nächsten Tag wieder auf die Straße geht und geraspeltes Eis mit Sirup verkauft“, berichtet Fonseca in einem Interview mit Progreso Semanal.

Sahay Fajardo erzählt, dass die Konsumentinnen inzwischen schon nicht mehr nur kommen, um Inhalte aus dem paquete zu kopieren. Sie wollen auch für ihren Lieblingssänger bei einer internationalen Castingshow abstimmen, fragen nach der Facebook-Seite eines Schauspielers oder suchen eine Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen.

Andere, wie Mary, begnügen sich mit der Wirkung türkischer Landschaften. Auf die Frage, warum ihr ausgerechnet die Serien aus der entfernten Türkei so gut gefallen, sagt sie: Genau deshalb, weil es eine Realität weit weg ist, ganz anders als die eigene. „Ich würde gern einmal in die Türkei reisen, die Schlösser sehen …“, sagt sie. Mary hat das Land noch nie verlassen, und ihr Monatslohn von 400 Pesos (ca. 17 Euro) reicht ihr kaum zum Leben. Am Nachmittag, wenn die Essenszeit vorbei ist und der Kleinste schläft, schaltet sie unter dem Geruch nach Ammoniak aus den Laken und erschöpft von den Anstrengungen des Tages den Fernseher ein, steckt den USB-Stick hinein und fällt ihren türkischen Galans in die Arme. Meist schaltet ihr Mann den Fernseher aus, wenn sie eingeschlafen ist.

Aracelys Avilés Suárez, 34, arbeitet beim Casa de Caribe und als freie Journalistin in Santiago de Cuba

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