Opposition in der Türkei: Kampf für Gerechtigkeit geht weiter

Ein Oppositionskongress gerät zu einem Bekenntnis für die westliche Moderne. Erdoğan lässt sich als Erbe der Eroberer von Byzanz feiern.

Zwei Frauen schwenken eine Türkeiflagge

Kundgebung der Opposition am Sonntag im westtürkischen Canakkale Foto: afp

BERLIN taz | Mit einem Großkongress unter freiem Himmel, an dem mehr als 10.000 Menschen teilnehmen, hat der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu am Wochenende seinen Kampf für Gerechtigkeit fortgesetzt. Der Kongress begann am Samstag und dauert bis Dienstag. Er soll die Themen des Gerechtigkeitsmarsches vom Juli dieses Jahres wiederaufnehmen, als Kılıçdaroğlu zur Unterstützung der politischen Gefangenen in der Türkei von Ankara nach Istanbul marschiert war.

Der Kongress findet an einem symbolisch hoch aufgeladenen Ort auf der Gallipoli-Halbinsel an den Dardanellen statt. Dort verhinderte das türkische Heer unter dem Kommando des späteren Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk im Ersten Weltkrieg eine Invasion der Alliierten. Heute erinnert eine große Gedenkstätte an die Opfer des Krieges. Ohne diesen Sieg hätte es die Türkische Republik 1923 so nicht gegeben. Mit der Wahl des Ortes macht Kılıçdaroğlu klar, dass er die Werte der säkularen, aufgeklärten und nach Westen orientierten Republik verteidigen will und sich in der Nachfolge von Atatürk sieht.

Ganz anders dagegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Als am Samstag der Kongress eröffnet wurde, nahm er zur selben Zeit ganz im Osten, am anderen Ende des Landes, eine Siegesfeier ab, die ebenso symbolisch wie der Kongress an den Dardanellen war. In der Nähe der heutigen Stadt Mus hatten die Seldschuken, ein Turkvolk aus Zentralasien, 1071 eine entscheidende Schlacht gegen das Byzantinische Reich gewonnen und damit den Weg zur türkischen Besiedlung von Anatolien freigemacht. So wie Kılıçdaroğlu sich in der Tradition von Atatürk und der westlichen Moderne sieht, stellte sich Erdoğan in die Tradition des seldschukischen Sultans Alp Arslan, der seine Truppen zum Sieg gegen den Kaiser Romanos IV. Diogenes führte.

Erdoğan ließ sich bei seiner Rede von Männern in seldschukischen Fantasieuniformen flankieren und behauptete, so wie Alp Arslan siegreich gegen die Byzantiner war, habe er siegreich die Putschisten vom 15. Juli geschlagen und damit seinen Gründungsmythos für die neue Türkei geschaffen.

Mehr als 700 Sprecher

Gegen diese neue Türkei stemmen sich die Teilnehmer des Kongresses an den Dardanellen. Es gibt in dieser neuen Türkei „weder Recht noch Gerechtigkeit“, sagte Kılıçdaroğlu in seiner Eröffnungsrede. „Es ist unsere Aufgabe, sich gegen den Tyrannen vor die Unschuldigen zu stellen“, beschrieb er das politische Ziel der Bewegung für Gerechtigkeit. Kılıçdaroğlu sieht nicht nur seine Partei, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP, in der Pflicht, sondern machte den Kongress wie schon seinen „Marsch für Gerechtigkeit“ zu einem überparteilichen Ereignis der gesamten Opposition.

Mehr als 700 Sprecher aus verschiedenen politischen Lagern werden bis Dienstag in acht Panels über die Justiz, die Bildungssituation, die Medien, die eingeschränkte Religionsfreiheit für alle Nicht-Sunniten und die Einschränkungen der Lebensformen sprechen.

Erdoğan wird nervös

„Wir wollen keinen Streit“, sagte Kılıçdaroğlu, aber die gegenwärtige Tyrannei sei nicht hinnehmbar. „Die Gefängnisse sind überfüllt, ständig werden Bürger per Dekret aus ihrem Job geworfen, ohne dagegen klagen zu können. Die Justiz muss wieder unabhängig werden.“

Mit seinem Kampf für Gerechtigkeit hat der Oppositionsführer einen Nerv in der Gesellschaft getroffen. Sein Gerechtigkeitsmarsch wurde zu einer Massenveranstaltung, und auch jetzt kann Erdoğan die Nachrichten über den Kongress nicht unterdrücken. Er wird nervös und griff Kılıçdaroğlu in den letzten Wochen mehrfach an. Einmal drohte er ihm sogar mit einer Festnahme und einem Verfahren, was die Popularität von Kilicdaroglu jedoch erhöhte.

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