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Verbale Umerziehung

Schlagloch von Ilija TrojanowWieso sind Begriffe wie „Helfer“ oder „Kosmopolit“ fast schon Schimpfwörter?

Foto: dpa
Ilija Trojanow

ist Schriftsteller, Weltensammler und Autor zahlreicher Bücher, darunter: „Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren“ (Residenz Verlag 2013) und „Macht und Widerstand“ (S. Fischer Verlag). Ende Mai erschien, ebenfalls bei S. Fischer, „Nach der Flucht“.

Es gibt Wörter, die manchmal eine semantisch radikale Veränderung erfahren. Ihre Bedeutung wird neu definiert, umgestülpt, auf den Kopf gestellt. „Gutmensch“ ist zum Beispiel so ein Wort. Es bezeichnet keineswegs einen Menschen, der Gutes tut, sondern einen nervtötenden Gesinnungsideologen, der mit seinen penetrant vor sich her getragenen Werten die gottgegebene Freiheit einschränken will, moralisch die Sau rauszulassen.

„Helfer“ ist auch nicht mehr unverdächtig, denn es meint keineswegs einen Menschen, der anderen hilft, sondern einen am „Helfersyndrom“ leidenden Egomanen, der die Welt mit seiner karitativen Aufdringlichkeit terrorisiert. Der neueste Begriff, der einer derartigen Umerziehung anheimgefallen ist, lautet „Kosmopolit“.

Nationalistisches Denken

Wer bislang der Ansicht war, Mehrsprachigkeit, kulturelle Versiertheit und pluralistisches Denken sei eine feine Sache, wird nun eines Besseren belehrt: Der Kosmopolit, so krächzen es die Kiebitze in jedem Krähwinkel, ist ein Snob, ein Weichei, ein elitärer Profiteur der Globalisierung. Ein naiver, weltfremder, abgehobener Schnösel. Die Attribute schließen sich teilweise gegenseitig aus, aber das stört nicht, im Gegenteil, Ziel der Übung ist ja schließlich die Verwirrung (wissenschaftlich jargoniert: die Paradoxie umgepolter binärer Gegensätze).

Denn das nationalistische Denken, das derzeit wieder Hochkonjunktur erleidet, zeichnet sich durch Affekte und Ressentiments aus, deren Nährgehalt in etwa dem einer Afri-Cola-Zero entspricht. Wer aus den intellektuellen Niederungen nach oben schielt, kann nur mit Schlamm um sich werfen. Wem die Fähigkeit abgeht, Haltungen infrage zu stellen, versucht sie wenigstens zu beschmutzen.

Denn es gibt keine Argumente gegen das kosmopolitische Denken. Aus dogmatischen Gründen auf das Eigene zu beharren, das einem völlig zufällig in die Wiege gelegt wurde, ist einfach nur dumm. Die allermeisten Eltern versuchen ihre Kinder mit viel Geduld und ein wenig Druck zu bewegen, von dem reichen Buffet des Lebens zu probieren, nicht immer nur Spaghetti zu essen. Die meisten Kinder ergeben sich irgendwann den Angeboten der Vielfalt, erfreuen sich daran. Wer aber als Erwachsener darauf beharrt, nur Spaghetti zu essen, weil Spaghetti das einzig Bekannte ist und ergo das Beste sein muss, sollte nicht politische Positionen proklamieren, sondern in eine Klinik für Essstörungen eingeliefert werden.

Was sich seit einigen Jahren immer deutlicher als eine der großen Geißeln unserer Zeit abzeichnet, ist das, was in den USA inzwischen identity politics genannt wird:. Die Überzeugung, es lohne sich nur für die Rechte einer bestimmten Gruppe zu kämpfen, ob nun ethnisch, national, kulturell oder sexuell definiert.

Andrew Young, der Mitstreiter von Martin Luther King, hat am Sonntag im amerikanischen Fernsehen daran erinnert, dass der Civil-rights-Kampf in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts für die Rechte aller geführt wurde, dass es um ein gesamtgesellschaftliches Projekt ging, dass der US-Präsident nicht nur eine nationale oder auch eine globale Verantwortung habe, und vieles andere mehr, was aus der Warte von Wissen und Weisheit selbstverständlich erscheint, aber leider bei vielen inzwischen in Vergessenheit geraten ist. Wir müssen dieser Tage ein weiteres Mal erleben, wie regionale Gesellschaften ebenso wie die Weltgemeinschaft in unzählige Stämme, Clans und Sekten zerfallen, anstatt einem universellen Ethos zu folgen.

Deformationen

Gegen solche Deformationen gibt es ein ganz einfaches Heilmittel: die Allgemeinen Menschenrechte. Doch wer diese heutzutage ernst nimmt, wird verunglimpft, als Gutmensch (Die Lage vieler Menschen ließe sich leicht verbessern – wie utopisch! Es müsste kein Kind verhungern – wie rührselig!), als unter Helfersyndrom leidend (Auch Flüchtlinge sind Menschen – wie gefährlich! Wer zu Boden gesunken ist, muss aufgerichtet werden – wie sentimental!), als Kosmopolit (Es lässt sich gut ohne kulturelle Arroganz leben – wie überheblich, Es gibt viele Heimaten – wie privilegiert). Anders gesagt: Wer besonders gut sehen kann, wird der Blindheit geziehen. Das sollte niemanden verwundern, in Zeiten, in denen die größten Produzenten von Lügen alle anderen der Verbreitung von fake news beschuldigen.

Lackmustest

Vor mehr als hundert Jahren schrieb der bedeutende amerikanische Romancier Theodore Dreiser („Sister Carrie“): „Was die sogenannten Richter der Wahrheit oder Moral bekämpfen, ist nicht die Verdorbenheit, sondern die Bedrohung ihrer kleinen Theorien über die menschliche Existenz, die in den meisten Fällen darauf hinauslaufen, das Bestehende zu akzeptieren.“

Anders gesagt: Wer besonders gut sehen kann, wird mittlerweile der Blindheit geziehen

Das Einzige, was sich seitdem geändert hat, ist, dass solche Verteidiger des Status quo nun all jene Vorstellungen von Wahrheit oder Moral diskreditieren, die darauf hinauslaufen könnten, etwas Wesentliches zu verändern. Die vermeintliche Verdorbenheit wird nun in der Güte, in der Hilfsbereitschaft, in der Weltoffenheit diagnostiziert.

Für all jene, die sich nicht sicher sind, zu welchem Lager er oder sie sich zählen sollen, gibt es einen sehr einfachen Lackmustest: Stellen Sie sich vor, Sie würden in einem vollen Zug nach einem freien Sitzplan suchen? Sie haben zwei Plätze zur Auswahl: der eine befindet sich in einem Abteil mit lauter unterschiedlichen Kosmopoliten, der andere in einem Abteil mit lauten Menschen eines ihnen fremden Stammes. Welchen würden Sie wählen? Würden Sie lieber in einem Dorf voller Kosmopoliten leben oder in einem Dorf, das von einem einzigen Clan dominiert wird, von einem Clan, dem Sie nicht angehören?

Zweifellos, das Kosmopolitische enthält eine utopische Komponente, das Nationalistische erwiesenermaßen eine apokalyptische. Welche Alternative wählen Sie? Die Möglichkeit einer Traumerfüllung oder den sicheren Untergang?

Ich hege, was das betrifft, keinerlei Zweifel: Ich bin verdammt froh, ein unter Helfersyndrom leidender kosmopolitischer Gutmensch zu sein.

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