Die Wahrheit: Mein lieber, lieber Scholli

Im 36. Teil unserer Serie über Biologie und Komik geht es heute nicht um die Wurst, sondern um den Schwan, jenes ausdrucksstarke Geschöpf.

Schluss mit wild: Der Schwan als Kulturobjekt par excellence Foto: reuters

Den Schwan, der schwerste einheimische Flugvogel, haben Natur- und Kulturgeschichte zu einem Kunstvogel gemacht, ohne dass er gezähmt und gezüchtet wurde. In Landsberg an der Warthe (heute: Gorzów Wiel­kopolski) gibt es einen Stadtpark, den Gottfried Benn, der dort 1944 drei Monate lang stationiert war, als „herkömmlich“ eingerichtet bezeichnete, „doch ungeheuer auffallend, das ‚Schwanenmotiv‘, Schwäne, das ist stilisiert! Widersinnig! Den Schwanenkopf so hoch über den Wasserspiegel zu legen auf einen Hals wie glasgeblasen! Keine Kausalität darin, reines Ausdrucksarrangement. Ebenso die Weisen, in die Fluten hangend, Unstillbares, Schwermut, Bionegatives in die Ackerbürgerstadt verlagernd – unmittelbar, wie jeder nachfühlt, auf Ausdruck gearbeitet.“

Die Schwäne sind Teil des künstlichen Interieurs, sie fügen sich darin ein. „Es gibt Tiere, die gegen die Natur arbeiten,“ so fasst der Kulturwissenschaftler Peter Berz die Parkvogel-Wahrnehmung von Benn zusammen, der den Begriff „Bionegatives“ im Buch des Psychiaters Wilhelm Lange-Eichbaum über „Genie – Irrsinn und Ruhm“ fand.

Schwäne wider die Natur

Das Seltsame ist, dass die wild lebenden Schwäne von sich aus ein bionegatives Umfeld suchen, indem sie, das heißt: meist die Höckerschwäne, mit Vorliebe in den Gewässern von Parkanlagen siedeln. In England, wo der Königin alle Landesschwäne gehören und sie derzeit mal wieder gezählt werden, sind sie wild lebend zuerst „erloschen“. Dabei wurde jedoch nachgeholfen, indem man sie „durch Abnehmen der Hand zeitlebens flugunfähig“ machte. Weil Parkvögel aber als tendenziell korrumpiert gelten, werden sie selten erforscht, wie der Ökologe Josef Reichholf bedauernd feststellte.

Der letzte berühmte Schwanforscher war der Ornithologe Oskar Heinroth, der bis 1945 auch das Aquarium am Berliner Zoo leitete. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Schwäne in Berlin und drumherum nahezu verschwunden – gegessen. Die neue Republik wollte nach Krieg und Monarchie den Bestand wieder auffüllen und beauftragte 1922 Oskar Heinroth damit.

Dieser stahl daraufhin eine Anzahl bebrüteter Höckerschwan-Eier am Lucknainer See in Ostpreußen. Von den daraus geschlüpften Schwänen ließ er diesmal aber nur noch einer Hälfte die Flügel stutzen, allen anderen beließ er ihre „herrliche Flugkraft“. Weil die Schwäne zusätzlich auch ein Gesetz ganzjährig schützte, gelang Heinroth schließlich die Neubesiedlung der hiesigen Gewässer.

Seit Karl Popper gilt der Satz „Alle Schwäne sind weiß“ als Paradebeispiel dafür, dass man vom Besonderen, von der Erfahrung, nicht aufs Allgemeine schließen darf: „Wenn alle bisher beobachteten Schwäne weiß waren, so bedeutet dies nicht, dass es notwendigerweise keine nichtweißen Schwäne geben könne.“ Tatsächlich tauchten dann im 17. Jahrhundert erstmalig schwarze Schwäne aus Aus­tralien in Europa auf – auch Trauerschwäne genannt. In der Antike war der weiße Schwan noch der „Trauervogel“. Man nahm an, die Schwäne wüssten um ihr Ende. Bisweilen „schwant“ dies auch uns noch.

Die UdSSR spielte stets „Schwanensee“, wenn Schlimmespassiert war

Schwanenritter Lohengrin

In Weimar veranstaltete man 2013 zur Verabschiedung der Kunstfestleiterin Nike Wagner eine Reihe von Events. Weil sie in Wagners „Haus Wahnfried“ in Bayreuth aufgewachsen war, lag natürlich der Schwan nahe – wegen der Lichtgestalt des „Schwanenritters“ Lohengrin in der gleichnamigen Wagner-Oper und ihrem traurigen Ende: „Der Kahn des Schwans mit dem Lohengrin ‚unendlich traurig‘ (Regieanweisung) scheidet, entfernt sich. Ortrud sinkt mit einem Schrei tot zu Boden. Elsa stirbt an psychischer Erschöpfung, das Volk (Chor) gibt sein Entsetzen ‚Weh! Ach!‘ kund.“

Im Westen begreift man die Schwäne als männlich – es sind oft verzauberte Prinzen. In Russland ist dagegen der Licht und Reinheit symbolisierende Schwan weiblich, und junge Balletteusen verkörpern ihn. „Das Ballett Schwanensee wurde immer dann auf allen Sendern gespielt, wenn etwas Schlimmes passiert war, wenn jemand ganz oben gestorben war. Auch als der Sozialismus starb, tanzten die Schwäne ihren Trauertanz im Fernsehen, als die Sowjetunion auseinanderfiel und während des misslungenen Putsches gegen Gorbatschow ebenfalls“, erzählte einmal der Schriftsteller Wladimir Kaminer.

Der Choreograf Luc Petton setzte 2012 für seine Version des Schwanensee-Balletts fünf weiße und drei schwarze Schwäne ein, die für ihren „Tanz“ nicht gedrillt wurden – wie die mit ihnen auf der Trockenbühne und in einer gläsernen Badewanne auftretenden Tänzerinnen. Man ließ sie nach dem Schlüpfen auf Menschen prägen und machte sie schon als Jungschwäne mit dem Theaterleben vertraut.

Schwanenhaftes

Machen fünf Biologen ein Picknick am See, dann geschieht folgendes: Plötzlich erhebt sich vor ihnen ein Schwan und fliegt laut Flügel schlagend übers Wasser davon. Er beschreibt eine Kurve und landet daraufhin wieder in der Seemitte. Die Männer fangen an zu diskutieren, wie der Schwan das gemacht hat und warum.

Der Erste, ein Physiologe, beschreibt die starken Flügelmuskeln, ihre besondere Verankerung am Skelett und das Nervensystem des Schwans. Er flog auf, weil Impulse von der Retina ins Gehirn und von dort weiter über die motorischen Nerven an die Flügelmuskeln geleitet wurden.

Der Zweite, ein Biochemiker, verweist darauf, dass die Muskeln des Schwans unter anderem aus den Proteinen Aktin und Myosin bestehen. Der Schwan kann aufgrund der Beschaffenheit dieser Faserpro­teine fliegen, unter Verbrauch von Energie eine Gleitbewegung vollführen und so den Muskel kontrahieren lassen.

Der Dritte, ein Entwicklungsbiologe, beschreibt die ontogenetischen Prozesse, die zunächst ein befruchtetes Ei zur Teilung veranlassen und dann zur rechten Zeit für die Ausbildung von Nervensystem und Muskulatur sorgen.

Der Vierte, ein Verhaltensforscher, zeigt auf einen im See schwimmenden Mann: Er hat vielleicht unabsichtlich den in Ufernähe gründelnden Schwan verscheucht, weil er ihm zu nahe gekommen war. Schwäne sind wegen ihrer kurzen, weit hinten am Körper angesetzten Beine an Land sehr schwerfällig – und verlassen deswegen das Wasser nur ungern, wo sie mit ihrem langen Hals die Pflanzen vom Grund abfressen.

Der Fünfte, ein Evolutionsbiologe, erklärt die Prozesse der natürlichen Selektion, die sicher stellen, dass nur jene Schwanvorfahren eine Chance hatten, zu überleben und sich fortzupflanzen, die sowohl imstande waren, eine mögliche Gefahr rechtzeitig zu erkennen, als auch schnell genug, sich in die Luft zu erheben.

Fünf Biologen, fünf Erklärungsarten. Der US-Naturwissenschaftler Steven Rose spricht von einem „epistemologischen Pluralismus“, den wir aushalten müssen. Der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour widerspricht ihm, indem er fragt: „Wann werden wir aufhören, die nichtmenschlichen Wesen zu objektivieren, indem wir sie einfach verweltlichen und laizistisch betrachten?“ An anderer Stelle meint er jedoch: „Wer der Naturfaszination zu erliegen droht, sollte zur Ernüchterung jedes Mal das Netz der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplin hinzufügen, durch die wir sie kennenlernen.“

Demnach sind die Naturwissenschaften für Latour so etwas wie Ausnüchterungszellen für trunkene Seelen. Das gilt jedoch wie gesagt nicht für den Schwan, der ein Kulturobjekt ist – und damit anscheinend auch ganz zufrieden.

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