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Kunst gucken am alten Ochsenweg

Kultur an der Eider Achtung, nicht vorbeifahren! Die einstige dänische Festungsstadt Rendsburg und ihre Region bieten neben der Nord-Art auch Musikfeste und jüdische Kulturgeschichte

Von Hajo Schiff

Schon der Ochsenweg, die uralte Nord-Süd-Route von Jütland nach Wedel, fand hier eine Furt durchs Wasser. Heute kann man die Eider und den bei Rendsburg parallel verlaufenden Nord-Ostsee-Kanal problemlos auf der 42 Meter hohen Eisenbahnbrücke von 1913 oder auf der Autobahn überqueren.

Dabei macht sich kaum jemand Gedanken darüber, welch wichtige Grenze er da überquert. Denn die Eider, Schleswig-Holsteins längster Fluss, war einerseits immer west-östlicher Verkehrsweg, andererseits markierte sie die Nordgrenze des Römisch-Deutschen Reiches. Das wurde 811 zwischen Franken und Wikingern ausgehandelt und hatte bis ins 20. Jahrhundert politische Virulenz.

Noch heute verläuft hier die Grenze des holsteinischen und schleswigschen Teils des stets unter deutschem und dänischem Einfluss stehenden Doppellandes. Zwar gehörten beide Landesteile bis zu den Kriegen von 1864 und 1866 zum dänischen Gesamtstaat, aber – staatsrechtlich kompliziert – Holstein ebenso zum Deutschen Reich und im 19. Jahrhundert zum Deutschen Bund.

Der Versuch, ganz Schleswig-Holstein zum dänischen Kronland zu machen, führte dann zur preußischen Intervention in den Kriegen von 1864 und 1866 und zur Eingliederung in das Deutsche Reich, nun samt Nord-Schleswig/Süd-Jütland bis kurz vor Kolding. Die heutige Grenze bei Flensburg besteht seit einer Volksabstimmung von 1920.

Zur Dänenzeit wurde Rendsburg im 17. Jahrhundert zur zweitwichtigsten Festung nach Kopenhagen ausgebaut. 1808 starb hier König Christian VII. und Frederik VI. wurde am bis heute von barocken und klassizistischen Bauten gesäumten Paradeplatz zum König ausgerufen. Zwar ist die planmäßige Anlage des Neuwerks samt Christkirche noch erhalten, doch Bastionen und Gräben gibt es fast keine mehr: Schon ab 1852 wurden die Anlagen geschleift und die Wasser weitgehend verfüllt. Im historischen Museum im ehemaligen Arsenal ist der komplexen Geschichte gut nachzuspüren.

Besser erhalten sind die Spuren der Industrie des 19. Jahrhunderts. Denn Rendsburg war ein großes Zentrum der Eisenverarbeitung. In der unmittelbar angrenzenden Nachbarstadt Büdelsdorf gründete Marcus Hartwig Holler um 1827 die Carlshütte, das erste Eisenwerk im dänischen Gesamtstaat. In Verlauf der 170-jährigen Firmengeschichte entwickelte sich eine immer größere Anlage mit teils über 2.500 Beschäftigten.

Im Dezember 1997 wurde sie nach Konkurs stillgelegt. Was tun mit den etwa 22.000 Quadratmeter großen Hallen? Auch hier erfolgte die beliebte postindustrielle Umwidmung zu einem Platz der Kunst. Schon seit Sommer 1998 stehen große Teile des Fabrikareals jeden Sommer der „Nord-Art“ zur Verfügung. Die kann sich mit dem Attribut schmücken, die größte Ausstellung ihrer Art in Nordeuropa zu sein, wenn auch vielleicht nicht die bedeutendste.

Beeindruckend weitläufige Hallen sind gefüllt mit allen Arten der Kunst, eine gewisse Vorliebe der über 200 KünstlerInnen zu figürlichen Formulierungen fällt auf. Mehrere Unterabteilungen setzten sehr verschiedene Schwerpunkte. So gibt es eine interessante, eher konzeptionelle Ausstellung dänischer Kunst, es gibt eine Präsentation von zwölf chilenischen Künstlerinnen, vorwiegend in Zeichnung und Fotografie, es gibt eine Auswahl von Kunst aus Shenzhen, der nördlich an Hongkong angrenzenden Millionenstadt.

Überhaupt sind es die Chinesen, die mit gekonnter Malerei und großen Plastiken besonders auffallen. Eine der Hallen ist allein den beiden riesigen, gut 30 Meter langen Phönix-Figuren des in Beijing und New York lebenden Künstlers Xu Bing gewidmet, der vor allem durch Installationen fiktiver chinesischer Schrift bekannt wurde.

Vor zwei Jahren im Arsenal der Biennale di Venezia gezeigt, entfalten die Phönixe auch hier ihre monströse Pracht, die als Collage aus Tausenden von Wrack- und Altteilen zu einem fiktiven zweiten Leben zusammenfinden – eine seltsame Aktualisierung traditionell kaiserlicher Ikonografie zu Ehren der übersehenen und vergessenen Architekturreste im großen chinesischen Modernisierungsprozess.

Im Areal der Carlshütte befindet sich auch ein 80.000 Qua­dratmeter großer Skulpturenpark. Hier siedelt schon seit 2016 ein Rudel aus überlebensgroßen Wölfen, gegen das sich ein Kämpfer mit Schwert zu verteidigen versucht. Über 100 zähnefletschende Viecher hat Liu Ruowang insgesamt gießen lassen. Als Träger des Publikumspreises der „Nord-Art 2016“ geht der alptraumhafte Kampf nun in eine zweite Runde – und der Rost gibt den Tieren inzwischen eine fast glaubhafte Fellfarbe.

Ansonsten sind Stahl- und Marmorskulpturen in allen Varianten moderner Formung und Umformung angenehm ins Grüne gestreut, und manchmal drängt sich ein einen Kunststoffsaurier reitendes Riesenmädchen oder ein Abendmahl großer Eisenschweine in den Blick.

Auch die 400 Quadratmeter große Wagenremise von 1913 wird für die Präsentation von Kunst genutzt: Zurzeit wird sie dominiert von „Ritter, Tod und Teufel“, einer überlebensgroßen Nachschöpfung der Figuren aus dem Meisterstich von Dürer durch einen russischen Künstler.

Zwei Außenstellen hat das Schleswig-Holsteinische Landesmuseum in der Region. Da ist zum einen, gleich gegenüber der Carlshütte, das Eisenkunstgussmuseum. Gerade letztes Jahr neu konzipiert und wieder eröffnet, zeigt es im Wesentlichen die Sammlung von Käthe Ahlmann, die 30 Jahre lang die Carlshütte leitete. Dabei geht es aber nicht um die zuletzt produzierten emaillierten Badewannen, sondern um Kunst und Kunstgewerbe aus Eisen vom 15. bis 21. Jahrhundert, darunter Öfen und Kaminplatten mit mythologischen Szenen, Kleinmöbel und Skulpturen, Medaillen und preußisch reduzierter Eisenschmuck.

Das andere Museum steht im Rendsburger Neuwerk: Das Dr.-Bamberger-Haus ist das jüdische Museum Schleswig-Holsteins. Neben einem restaurierten Sy­nagogenraum aus der Mitte des 19. Jahrhunderts werden in der ehemaligen Talmud-Thora-Schule seit 1988 Glaube, Kultur und Geschichte der Juden anschaulich gemacht.

Zurzeit gibt es eine besonders pikante Sonderausstellung: Unter dem Zitat „Ertragen können wir sie nicht“ geht es im Jahr der großen Reformationsfeiern hier in 17 Informationstafeln um Martin Luthers abwertendes Verhältnis zu den Juden: Er hielt sie – nach dem Teufel – für die größten Feinde des Christentums. Sich daran zu erinnern kann nicht schaden – und sonntags ist in den staatlichen und städtischen Museen Rendsburgs der Eintritt sogar frei.

Auch der Nord-Ostsee-Kanal, die meistbefahrene Wasserstraße der Welt, hat seinen teils technoiden, teils idyllischen Reiz, andere lockt mehr die Naturbelassenheit der alten Eiderarme.

Wer mehr auf hochherrschaftliches Ambiente steht, sollte zum nahen Gut Emkendorf fahren. Dort im Schloss mit seinen Raffael-Kopien im Herrensaal versammelten in der Klassik Graf und Gräfin Reventlow den „Emkendorfer Kreis“ um sich – auch Klopstock, Lavater, Stolberg und Claudius waren dabei.

Leider veranstalten die privaten Besitzer nur recht selten Führungen durch das Innere des Herrenhauses, aber dieses Wochenende findet im Park und in den Nebengebäuden eines der „Musikfeste auf dem Lande“ des Schleswig-Holstein-Musikfestivals statt. Es gibt also viel Kultur in der Region, es bedarf nur des genaueren Blicks. Und die schnell passierbaren Brücken sollten nicht zum Vorbeifahren verführen.

„Nord-Art“, Kunstwerk Carlshütte, Büdelsdorf, Vorwerksallee, bis 8. 10. Geöffnet Di–So 11–19 Uhr. Im Juli und August sind fünf mehrtägige Proben des Schleswig-Holstein-Musikfestival-Orchesters in der ACO Thormannhalle auf Carlshütte öffentlich zugänglich. Info: www.shmf.de

Jüdisches Museum Rendsburg, Prinzessinstraße 7–8. Ausstellung „Ertragen können wir sie nicht – Martin Luther und die Juden“: bis 22. 10. Geöffnet Di–Sa, 12–17, So, 10–17 Uhr. Sonntags Eintritt frei

Eisenkunstgussmuseum, Büdelsdorf, Ahlmannallee 5, Geöffnet Di–Sa, 12–17, So, 10–17 Uhr. Sonntags Eintritt frei

Historisches Museum und Druckmuseum, Kulturzentrum Rendsburg im Arsenal, Arsenalstraße 2–10. Geöffnet Di–Fr, 10–18, Sa + So, 10–17 Uhr. Sonntags Eintritt frei

Gut Emkendorf: Sa + So, 15. und 16. Juli: Musikfest auf dem Lande – Schleswig-Holstein-Musikfestival. Nächste öffentliche Führung durch das Herrenhaus erst wieder am 7. 9. Anmeldung: www.herrenhaus-emkendorf.de

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