„Hui, die haben ja Respekt vor mir“

ARTISTISCH Berlin war im 19. und 20. Jahrhundert ein Zentrum der Zirkuskunst. Zu DDR-Zeiten war vor allem die Dompteurin Ursula Böttcher berühmt. Eine kleine Geschichte der Tierdressur

Hielt dem Mundgeruch der Eisbären stand: Ursula Böttcher in Aktion (Aufnahme undatiert) Foto: ArenaPAL/ullstein bild

von Helmut Höge

Berlin war das Zentrum der deutschen Zirkuskunst“, heißt es in einer Chronik von Hans-Werner Klünner. Bis 1900 fand sie in festen Häusern statt, danach kamen die Wanderzirkusse auf. In der DDR gab es gelegentlich Vorstellungen des Staatszirkus im Friedrichstadtpalast. Auf dessen Gelände in Mitte befand sich einst der Circus Schumann. Meist wurden Pferdedressuren geboten. Ab 1910 interessierte sich das Publikum mehr für moderne Raubtierdressuren, das Besucherinteresse an Schumanns Darbietungen ließ nach. Der Erste Weltkrieg brachte ihm schließlich den Ruin.

Im Friedrichstadtpalast gastierte unter anderem die Dompteuse Ursula Böttcher. 1952 wurde sie Putzfrau im „Staatszirkus der DDR“ und sollte dann die Löwengruppe vom Dompteur Georg Weiß unter Anleitung von Gaston Bosman, einem Tierlehrer (so nennt man die im Zirkus Arbeitenden), übernehmen. „Es reizte sie, mit Raubtieren so engen Kontakt zu haben, ihnen befehlen zu dürfen“, heißt es in ihrer Biografie „Kleine Frau, bärenstark“ (1999). Als sie 1955 das erste Mal vor den Löwen stand und die brav alles taten, was sie sollten, dachte sie: „Hui, die haben ja Respekt vor mir.“ Aber einmal, als sie dem Löwen Royal ein Stück Fleisch zur Belohnung gab, was dieser gewohnheitsgemäß mit einem Prankenhieb quittierte, dem Böttcher nicht schnell genug auswich, zerriss es ihr die Pulsader. Bosman sagte, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen war, er würde es ihr nicht übelnehmen, wenn sie nun aufgebe. Aber warum denn, antwortete sie, „Royal hat es doch bestimmt nicht mit Absicht getan. Ich glaube sogar, der ist noch mehr erschrocken als ich.“

Aufrecht und respektiert

Bosman riet ihr, in dem Löwen ein Kind zu sehen, das man liebt, dem man aber auch Gehorsam abverlangt, dies begründete er lamarckistisch: „Sein Verhalten wird von zweierlei bestimmt. Da ist einmal der Instinkt. Das ist die Summe der Erfahrungen, die von der Art in vielen Tausenden von Jahren gesammelt worden sind. Und da sind die Erfahrungen. Die er selbst unter seinen spezifischen Lebensumständen macht … Wenn du an ein Tier herangehst, dann tu immer so, dass ihm ein Fluchtweg bleibt. Fühlt es sich zwischen den Gittern in die Enge getrieben, dann bekommt es Angst, dann gerät es in Panik und will, das ist wieder sein Instinkt, ausbrechen. Und du bist in dieser Situation der schwächste Punkt. (…) Dein wichtigstes Instrument ist dein Wille. Der muss alles dominieren. Ich glaube, du bringst diese Kraft auf.“

Der Raubtierdresseur Georg Weiss, der 1954 mit drei jungen Braunbären begann, bemühte statt Lamarck die pawlowsche Reflextheorie: „Solange der Dresseur aufrecht seine Arbeit verrichtet, wird er respektiert, und die Tiere würden es nicht wagen, ihn ohne Erregung anzugreifen. Stolpert der Mann in der Manege jedoch, so wird der Jagdsprung der Großkatze durch einen Automatismus ausgelöst. Er erfolgt eine Reaktion im Sinne der unbedingten Reflexe (nach Pawlow). Die Situation des Fallens ist nicht gleichzusetzen mit derjenigen, in der der Dresseur dem Tier den Rücken dreht, obwohl es nicht wenige Tiere gibt, die auch solche Momente auszunutzen verstehen, doch das sind Ausnahmen.“ In der DDR bekamen die drei Zirkusse als verstaatlichte Betriebsteile eine Verwaltung, den VEB Zentral-Zirkus, der die Artisten fest anstellte beziehungsweise sie unter Vertrag nahm und den Nachwuchs in der „Staatlichen Fachschule für Artistik“ ausbildete – in alle cirzensischen Richtungen, nur nicht in Tierdressur. Die Dompteure begannen meist als Tierpfleger, die einem erfahrenen Dompteur assistierten und dann selbst eine Tiergruppe übernahmen. Allerdings wurde die Tierpflegerausbildung nach der Tierparkgründung 1954 auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt.

Bereits nach der Russischen Revolution waren alle Vergnügungseinrichtungen, unter anderem das adlige Ballett, nicht aufgelöst, sondern verwissenschaftlicht worden. Beim Zirkus wurde eine Artistenausbildungsstätte geschaffen, und in jeder größeren Stadt entstand ein Zirkusbau, daneben warben die sowjetischen Ballett- und Zirkusvorführungen auf ihren Auslandstourneen für das Land – beider Kunst brauchte keine sprachliche Übersetzung. Der große Moskauer Staatszirkus, dessen Spielstätte Breschnew neu bauen ließ, wurde zum nationalen Kulturerbe erklärt, seine Artisten waren Staatsbedienstete. Anders als bei den Gastspielen der Ballettensembles im Ausland brauchte man bei ihnen kaum zu befürchten, dass die Besten im Westen blieben, schon gar nicht, wenn sie jahrzehntelang mit staatseigenen Raubtieren arbeiteten. Anders war es bei den Clowns.

Ursula Böttcher übernahm nach den Löwen eine Gruppe von zehn Eisbären. Der Generaldirektor hatte sie vor die Wahl gestellt: „Entweder übernehmen Sie die alten Bären oder Sie kriegen eine Hundenummer!“ Mit den Eisbären trat sie dann 35 Jahre lang auf. Ihre Darbietungen waren ein Exportschlager. In einem Klubgespräch des Kulturbunds wurde sie gefragt, wie man Raubtierdompteurin werde: Voraussetzung sei, antwortete sie, „Liebe zu den Tieren, viel Geduld und etwas Mut. Dann braucht man natürlich einen guten Dompteur als Lehrer. Wer ernstlich so ein Ziel verfolgt, sollte sich auf alle Fälle vorher viel mit Tieren beschäftigen.“

In einem Rundfunkinterview erzählte sie, wie sie sich gegenüber ihren zehn Bären behauptete. Als sie einmal beim Tanz mit der Eisbärin „Nixe“ von dieser zu Boden geworfen und in die Schulter gebissen wurde, rettete ihr Assistent ihr das Leben, aber sie machte sofort weiter und ging erst nach der Vorstellung ins Krankenhaus: „Man darf so etwas nicht durchgehen lassen. Wenn das Tier merkt, dass es seinen Willen behaupten kann, ist es für diese Arbeit verloren.“

Der Zürcher Zoodirektor und Tierpsychologe Heini Hediger schrieb 1984 nach einem Gastspiel von Ursula Böttcher: „Ohne die psychische Überlegenheit des Dompteurs gibt es keine Raubtierdressur. Sie ist sozusagen das Alpha und Omega solcher Vorführungen, aber ihrem Wesen nach weitgehend rätselhaft.“

„Aber warum denn? Royal hat es doch bestimmt nicht mit Absicht getan.“

Ursula Böttcher auf die Frage, ob sie mit der Dressur aufhören wolle, nachdem der Löwe Royal ihr die Pulsader zerrissen hatte

Es waren der Hamburger Tierhändler Carl Hagenbeck und sein Bruder Wilhelm, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts in ihrem Zirkus die „sanfte Dressur“ (mit Belohnung und Peitsche) einsetzten. Bis dahin wurden die Tiere meist mit glühenden Eisen und Gabeln dressiert. Vor allem die großen Raubkatzen. Das Publikum wollte sie als wilde Bestien sehen. Die berühmte Raubtierdompteurin Mabel Stark arbeitete seinerzeit mit zwanzig Tigern. Irgendwann wollte sie mit denen keine albernen Kunststücke mehr einüben, stattdessen die Schönheit ihrer Raubkatzen präsentieren: Sie liefen herum, sprangen von Postament zu Postament – und taten alles wie im Fluss. Sie erwartete großen Applaus, er war aber nur verhalten. Ganz anders die darauf folgende Löwennummer eines Dompteurs: „Die Tiere fletschten die Zähne, schlugen mit den Tatzen durch die Luft, der Dompteur musste mehrmals seine Schreckschusspistole einsetzen. Als sie von ihren Postamenten runtersprangen und auf ihn losgingen „konnte er sich nur mit einem Hechtsprung durch die auffliegende Käfigtür retten“. Das Publikum johlte und klatschte stehend.

Der Dompteur muss in seiner Raubtiergruppe das „Superalphatier“ sein, wie Hediger ihn nennt, in einer Eisbärengruppe sei das besonders schwierig, weil Bären in optischer und akustischer Hinsicht extrem „ausdrucksarm“ sind. Mit ihren Eisbären tourte Ursula Böttcher durch die Welt. Aber wo immer sie gastierte, regelmäßig bekam sie das Neue Deutschland zugeschickt. Mit ihrem Bären „Alaska“ wagte sie einen Bärenkuss, bei dem er sich mit seinem schlechten Mundgeruch über sie beugte und ein Stück Zucker aus ihrem Mund nahm. Aus diesem Kunststück machte man ein Motiv für eine DDR-Briefmarke.

1999, kurz bevor ihre Biografie erschien und sie sich von „Norda, der allerletzten Eisbärin aus der alten Garde“, verabschieden musste (Norda war alt und krank und wurde vom Tierarzt mit einer Spritze getötet), wurde ihr Staatszirkus von der Treuhandanstalt abgewickelt, und die Tiere wurden verkauft, sie selbst bekam eine „betriebsbedingte Kündigung“. Als man sie fragte: Was nun?, sagte sie: „Frag mich was Leichtes, möglicherweise züchte ich weiße Mäuse und dressiere sie.“

Der Schriftsteller Jörn Klare porträtierte 2008 den Raubtierdompteur Tom Dieck junior, als der mit seinen drei Tigern und sechs Löwen mit dem Zirkus Busch-Roland in Berlin gastierte. Er meinte zuletzt: „Dompteure gibt es übrigens nicht nur im Zirkus.“ Er habe letztens eine Doku gesehen über den Chef von Trigema: „Das ist vom Psychologischen eigentlich genau wie eine Raubtiernummer. Der läuft den ganzen Tag durch die Fabrik und schaut jedem auf die Finger, und alle sind auf den Zehenspitzen, und es klappt auch immer, weil der Chef könnte ja jeden Augenblick vorbeikommen. Und genauso ist es eigentlich auch beim Dressieren, man muss immer zeigen, dass man da ist. Und dass man ein Auge drauf hat auf alle.“