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Kunstunterricht mal anders

BILDUNG Eine Spinne, ein Monster und jede Menge Kunst: SchülerInnen der Grundschule Ritterstraße gehen statt in den Unterricht in die Hamburger Deichtorhallen

Die SchülerInnen sollen nicht belehrt, sondern selbst tätig werden Foto: André Lützen

von Frank Keil

Erst mal gibt es einen Apfel für jeden, der mag. Für den Weg! Vier U-Bahn-Stationen sind es: von der Ritterstraße bis zur Steinstraße, wo es den Berg leicht runter Richtung Elbe zu den Deichtorhallen geht. Denn am heutigen Mittwochnachmittag gibt es für die Schüler der Grundschule Ritterstraße in Wandsbek wieder den Kunstkurs mit Ausflug, ein Angebot des Hamburger Museumsdienstes.

Dabei sollen die Schüler nicht stundenlang vor Bildern oder Vitrinen stehen und belehrt werden. Sie sollen selbst tätig werden, zeichnen oder malen, was sie sehen oder eben wie heute: fotografieren. Und dafür bekommt vor Ort jedes der Kinder eine Digitalkamera ausgeliehen – genau wie neulich, als es ins Altonaer Museum ging.

Kursleiter ist der Hamburger Fotograf André Lützen. Er hat schon Fotokurse im Sudan, in Indien und Burkino Faso oder in Sibirien gegeben – für Erwachsene. Und er gibt seit Jahren Kurse für Kinder und Jugendliche in den Hamburger Deichtorhallen. Er schaut auf seine Truppe: quirlige, hochgeschossene Mädchen, ein paar stille Jungs, erste bis vierte Klasse: „Das Tolle an den Kindern in diesem Alter ist, dass sie noch keine Vorstellungen im Kopf haben, wie ein gutes Bild auszusehen hat.“ Sie würden einfach das fotografieren, was ihnen gefalle oder was ihnen auffalle. Das ändere sich aber bald : „Und die Schülern denken dann nur noch an sowas wie den goldenen Schnitt und oder wie das Verhältnis vom Vordergrund zum Hintergrund angeblich zu sein hat.“

Vor der nördlichen Deichtorhalle angekommen, ziehen die Schüler die schwere Tür auf und strömen ins Innere. „Ist das hier ein Altenheim?“, fragt Chantal, legt den Kopf in den Nacken, schaut auf die Stahlstreben, die das Dach halten. Na ja, es erinnert sie irgendwie an eins. Aber kein Problem, wenn das hier kein Altenheim ist. War ja nur eine Frage. Und schon eilt sie zu ihren Mitschülern, die sich vor einem Monitor versammelt haben, auf dem Wasser von oben nach unten fließt und immer wieder von vorne startet. Eigentlich sollen die Schüler jetzt eine Führung bekommen. Aber die Mitarbeiterin, die die Führung durchführen soll, ist nicht da. Sie taucht auch nicht auf und niemand weiß Bescheid.

Egal, dann ist das so. André Lützen kennt schließlich das Haus bestens, auch die aktuelle Ausstellung ist ihm vertraut: Künstler haben sich die Elbphilharmonie vorgenommen, haben sich zu ihr etwas ausgedacht, sie gemalt, fotografiert, nachgebaut. Etwas kleiner, aus einfachem Holz. „Die Elbphilharmonie, ihr wisst, was das ist?“, will Luetzen wissen. „Hamburgs neues Rathaus“, ruft Antonia. So ganz verkehrt ist das ja nicht. Und Fee war schon mal da, auf der Aussichtsplattform, das sei ganz schön gewesen.

Es geht in das Innere der hölzernen Elbphilharmonie, wo es leicht dämmerig ist und es bei jedem Schritt knarzt. Man kann Schallplatten auflegen und hört dann Reden aus der Bürgerschaft von Olaf Scholz und ein Kunstkritiker erzählt, dass, wenn das Haus erst mal fertig sein werde, bald niemand mehr über die horrenden Kosten reden wird.

Nun geht es in einen nächsten Raum, aber vorher muss Lützen etwas erklären: „Ihr seht gleich eine afrikanische Seidenspinne. Die ist nicht hinter Glas.“ Und Lützen, der sonst die Ruhe selbst ist, wird ausnahmsweise und einmalig eindringlich: „Ihr fasst die Spinne nicht an!“ Der Vorhang lüftet sich, alle drängen hinein und staunen über das feine Netz, das da angestrahlt wird; eine Arbeit des argentinischen Künstlers Tomás Saraceno.

Geduldig beantwortet drinnen die für den Raum verantwortliche Aufsicht die vielen Fragen: dass die Spinne für Menschen nicht gefährlich ist, aber für Insekten schon. Dass sie das Netz, das zu sehen ist, in drei Stunden hätte spinnen können, sie sich aber mehr Zeit gelassen habe. Und dass es sich um ein Spinnenmännchen handele, das keinen Namen trüge.

Keinen Namen? Das lässt sich ändern, nun heißt die Spinne mal Skippy, mal Foxy. Zwischendurch klicken die Kameras leise, und kein einziges Mal fragt eines der Kinder, warum das ein Kunstwerk sein soll, wenn da eine Spinne ein Netz spinnt. Lieber fotografieren sich die Kinder untereinander, sie fotografieren den Fußboden mit seinen Linien, sie fotografieren die Luft oder irgendein Detail von einem der Bilder, die da streng gerahmt hängen.

Eigentlich sollen die Schüler jetzt eine Führung bekommen. Aber die Mitarbeiterin, die die Führung durchführen soll, ist nicht da

„Kann man Nasenlöcher fotografieren?“, fragt Aline. Sie probiert es einfach aus, hält ihrer Freundin Adja die Kamera ganz dicht vors Gesicht und löst aus. Was sie danach auf dem Display sieht, überzeugt sie nicht sonderlich. Also löschen. Und nächstes Bild: ein Detail auf der Filmleinwand etwa, auf der zu Musik ständig neue Muster projiziert werden, die sich in Sekundenschnelle wieder auflösen. Und zwischendurch taucht der Schriftsteller Alexander Kluge auf, liest einen wohlformulierten Text über die Wirklichkeit und schaut ab und zu streng die Zuschauer an. Einmal fällt das Wort „Monster“.

Monster! Das ist es! Denn da ist manchmal so ein Röhren oder Schnauben zu hören, das durch die ganze Deichtorhalle dröhnt – und dann ist es auch schon wieder still und nach ein paar Minuten wieder da. Es klingt, als ob ein Bär schnarcht oder knurrt oder wie ein Wolf oder doch eher ein Löwe.

„Okay – machen wir uns doch mal auf die Suche nach dem Monster!“, schlägt Lützen vor. Und die Kinder rennen los. Sie schauen links und rechts, gehen nach vorne zum Eingang, laufen bis ans Ende der Halle. Und dann ist es entdeckt: Das Monsterröhren kommt von der Spitze der hölzernen Elbphilharmonie, ein Lautsprecher ist in die Holzfassade eingelassen – Monster, wir haben dich!

André Lützen ist zufrieden: „War vielleicht ganz gut, dass die Führung ausgefallen ist, wer weiß, wie theoretisch sie geworden wäre, und so hatten wir die Chance, das Monster zu finden.“ Er schaut dem Treiben zu, sammelt noch eine letzte Kamera wieder ein. Dann sagt er nachdenklich: „Diese Spontanität, die die Kinder haben, versuchen wir Erwachsene ihnen wieder abzugewöhnen. Meistens mit Erfolg – in der Regel mit Erfolg.“

Im Rahmen des Projektes ist das „um die Ecke entdeckt“ erschienen. Präsentation: Mittwoch, 12. Juli, 14.30 Uhr im Altonaer Museum