Arbeitet schon ihr halbes Leben auf dem Kiez: Ina

In stabiler Seitenlage

KIEZ-KNEIPE Der Serienmörder Fritz Honka war Stammgast in der Kiezkaschemme „Zum Goldenen Handschuh“ – hier wählte er seine Opfer aus. Vor einem Jahr veröffentlichte Heinz Strunk seinen Roman über die Honka-Stube. Wie hat die Aufmerksamkeit den Handschuh verändert? Ein Kneipenbesuch

Aus Hamburg Katharina Schipkowski
und Nico Schnurr

Rauchschwaden ziehen an einem Avokadokern vorbei. Auf dem hölzernen Ecktresen liegen Fruchtabfälle: zwei Bananenschalen, zwei abgegessene Stücke Honigmelone und die Avokadoreste. Daneben werden die Getränke langsam schal: ein Holsten Edel, ein Glas Sekt, ein Wasser. Fünf Gestalten hängen in leichter Schieflage auf ihren Barhockern, es ist 11 Uhr morgens. Wer um diese Uhrzeit auf dem Kiez unterwegs ist, war seit gestern Abend nicht zu Hause.

Obwohl der Hamburger Berg die Seitenstraße mit der höchsten Bardichte auf St. Pauli ist, hat man um diese Uhrzeit nur vier Kneipen zur Auswahl. Der „Goldene Handschuh“ ist eine von ihnen. Seit 1962 hat der Handschuh rund um die Uhr geöffnet, 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag. Keiner, der das Licht ausmacht – immer gibt es noch einen Allerletzten.

„Menschliches Strandgut“ nennt Heinz Strunk, Autor und Humorist, das Ensemble aus Abgerissenen, Dauervergifteten und Vernichtungstrinkern, das im Absturzmilieu von St. Pauli havariert. Auch der vierfache Frauenmörder Fritz Honka wurde in den frühen 1970er-Jahren wieder und wieder in den Handschuh gespült. In der „Vorhöllen-Kneipe“, Hort der völlig Verwahrlosten und „Verschimmelten“, traf er auf seine späteren Opfer, Gelegenheitsprostituierte, Frauen, die, wie Strunk schreibt, „am lebendigen Leib verrotten“.

Hotpants und Kampfsport

Ina ist quicklebendig. Ihre Schicht hat gerade angefangen. Seit sieben Jahren steht die 43-Jährige dreimal pro Woche in der Honka-Stube hinterm Tresen. Schon mehr als ihr halbes Leben lang arbeitet sie auf dem Kiez. Die blonden langen Haare fallen ihr über die Schultern, auf ihren Augenlidern glitzert weißer und lilafarbener Lidschatten. Sie trägt ein weit ausgeschnittenes Blumentop und Hotpants. Nachdem sie ihre Obstmahlzeit beendet hat, holt sie eine Packung Salami aus einer Plastiktüte. Als sie die Wurstscheiben auf ein Brötchen legt, fallen ihre Handrücken auf – ihre breiten Fingerknöchel sind gezeichnet vom Kampfsport. Ina frühstückt in aller Seelenruhe zu Ende. Um diese Uhrzeit ist kaum was los im Handschuh.

Desillusioniertes Dasein

Soziologisch genau seziert Strunk in seinem 2016 erschienen Tatsachenroman „Der goldene Handschuh“ Episoden aus Honkas desillusioniertem Dasein im Morast der Hamburger Kiez-Kaschemmen der 1970er-Jahre. Das brachte ihm den Wilhelm-Raabe-Preis und einen Platz auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises ein. Monatelang verkaufte sich kaum ein Buch besser als Strunks Milieustudie.

Heute, gut ein Jahr nach Veröffentlichung des Buches, trifft einen Strunks strenger Blick gleich beim Betreten des Handschuhs. Sein Foto baumelt am abgewetzten Holz der Wandvertäfelung. Daneben prangt das Cover seines Romans. „Mir ist das unangenehm mit dem ganzen Bohei“, sagte der Autor vor einem Jahr über den Hype um den Handschuh. „Ich sehe mich als Gast und möchte meine exponierte Position dort schnell wieder loswerden.“ Ein paar Besuche mit den Feuilletonchefs des Landes stattete Strunk dem Handschuh aber dennoch ab, als es sein Werk zu bewerben galt. Auch eine Lesung am Ecktisch durfte nicht fehlen.

Der Handschuh macht ohnehin kein Geheimnis aus seiner Vergangenheit. Davon zeugt schon der Namenszusatz „Honka-Stube“. Unter das Sticker-Gewirr an Wand und Tresen haben sich viele kleine Abziehbildchen vom Konterfei des Serienmörders gemischt. Im Netz vermarktet sich die Bar als „kultige Kiez-Kneipe“. Dabei ist der Stoff, aus dem Hamburger Kiez-Geschichten sind, seit einiger Zeit aus Baumwolle und für 18 Euro zu haben. So viel kostet das Fan-Shirt des Handschuhs.

Was hat sich verändert im Handschuh, seit das Bestseller-Buch erschienen ist? „Eigentlich gar nix“, sagt Ina. „Ist schließlich ’ne ganz normale Kneipe.“ Sie macht ein paar Schritte hinter dem Tresen hervor in den Raum. Die Löcher in der Wand, die vergilbten Gardinen, das alles gehöre dazu, erklärt Ina, während sie sich durch die schummrige Gaststube bewegt. „Ficken und Lecken 1,90 €“, steht auf einem dunkelgelben Zettel an der Wand. Daneben: „Gift 1,50 €“. An der Wand gegenüber hängen laminierte Zeitungsartikel. Im letzten Jahr haben fast alle Hamburger Medien über den Honka-Kult berichtet. Pilgern viele Sensationsgierige auf den Spuren des Kults um den Serienmörder hierher? „Nö“, sagt Ina. Am Wochenende kommt das Partyvolk, unter der Woche die Stammgäste. „Du hast hier alles“, sagt die Wirtin und zählt auf: „Prostituierte, Zuhälter, Millionäre, Arbeitslose.“ Ina zuckt die Schultern. „Ganz normale Leute.“

An den Wochenenden kommt das Partyvolk, unter der Woche die Stammgäste Fotos: Miguel Ferraz

Stabile Seitenlage – so würde Aaron den Zustand der Kneipe bezeichnen. „Hier kommt immer noch das Pack her“, erklärt er. Seine zerzausten Haare hat er provisorisch unter einer Wollmütze versteckt, die Regenjacke lässt er auch im Handschuh an. Seit sieben Uhr schon sitzt Aaron am Tresen, wo er überall schon vorher war, kann er nicht mehr so genau sagen. Neben ihm sitzt Vicky, sie arbeitet in einer anderen Kneipe, nicht weit vom Handschuh. Dienstagvormittag sind die beiden besonders gern hier. „Das ist dann der richtige Handschuh“, sagt Aaron. Am Wochenende, wenn ein Türsteher das Publikum vor dem Eintritt mustert, sei ihm das alles viel zu stressig hier. Dann kämen die Student*innen, die Tourist*innen, die Neugierigen und Gaffer*innen. Viele von ihnen blieben keine fünf Minuten. „Das erste Mal ist immer kurz“, sagt Vicky und trinkt ihren Sekt aus.

Außer Ina arbeitet keine andere Frau im Goldenen Handschuh. Hinter dem Tresen muss sie einiges ertragen. Wenn das „menschliche Strandgut“ sie anstarrt, ansabbert, anpöbelt oder begrapschen will, bleibt sie meist gelassen. Manche Gäste seien sogar so dreist, Bier zu bestellen, obwohl sie gar keins trinken, sagt sie und demonstriert: Wie sie sich runterbeugt, um den Bierkühlschrank zu öffnen. Vom Tresen aus hat man dann einen perfekten Blick auf ihren Hintern. „Wenn man empfindlich ist, sollte man nicht auf dem Kiez arbeiten“, sagt sie. Ina versteht sich als eine Art Moderatorin des Suffs. Sie versuche, für eine entspannte Stimmung im Handschuh zu sorgen. Ina ist Pragmatikerin. „Ich will hier meine Ruhe und Geld verdienen.“

Die Ruhe vor dem Film

Inzwischen könne sie sehr genau einschätzen, wer da durch den dunkelroten Vorhang zu ihr ins schummrige Licht tritt. „In dem Moment, wo die Leute in den Laden kommen, weiß ich schon, ob sie mir eine Flasche Champagner ausgeben, Koks in der Tasche haben oder Stress machen wollen“, sagt Ina. Seit 17 Jahren macht sie Karate. Nicht, um „Leute auszuschalten“ – dazu sei es bislang nur dreimal gekommen. Der Sport gebe ihr die Sicherheit und Ruhe, die sie hinter dem Tresen braucht.

Mit der Ruhe könnte es bald endgültig vorbei sein. Der Hamburger Regisseur Fatih Akin arbeitet an der Verfilmung der Honka-Story. Wird der Film ein Erfolg, dürfte sich die Geschichte vom Goldenen Handschuh in der Republik verbreiten. Ina hat keine Angst vor einem Ausverkauf der Kiezkneipe. „Hier hat sich ja seit ’nem halben Jahrhundert nichts geändert“, sagt sie. „Ich glaube nicht, dass hier plötzlich Anzugträger ankommen.“