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Wahlversprechen einhalten oder Streik

Kolumbien Seit einem Monat fällt für acht Millionen SchülerInnen der Unterricht aus. Die LehrerInnen streiken und fordern vom Staat langfristige Investitionen. Doch von seinen Wahlversprechen will Präsident Santos nichts mehr wissen

Aus Bogotá Ralf Pauli

Von den Tränengas- und Gummigeschossen, die eine Spezialeinheit der kolumbianischen Polizei in die Spitze des Protestzuges schießt, erfährt María Alarcón über WhatsApp. Die 54-jährige Lehrerin mit dem schwarzen Che-Guevara-T-Shirt marschiert am Ende des Zuges, einige hundert Meter von den Ausschreitungen entfernt. Dazwischen laufen rund 3.500 KollegInnen auf der mehrspurigen Avenida El Dorado, die zum internationalen Flughafen von Bogotá führt. Dort demonstrieren die LehrerInnen an dem verregneten Freitagmittag für ein besseres Bildungssystem. Wie an so vielen Tagen zuvor in diesem Monat. Doch weil sie dieses Mal auf der Fahrbahn für Schnellbusse marschieren, setzt die Polizei Tränengas, Gummigeschosse und Wasserwerfer ein.

„Mich hat schon gewundert, dass wir hier in Bogotá bisher unbehelligt demonstrieren durften“, sagt Alarcón sarkastisch, als sie von ihrem Smartphone aufblickt. In anderen Städten des Landes sind seit Streikbeginn vor rund einem Monat insgesamt drei LehrerInnen getötet worden. Bisher sind die genauen Umstände nicht geklärt. Alarcón macht für die Eskalationen den Staat verantwortlich. „Weil wir links und Gewerkschafter sind“, behauptet sie, „werden wir als Guerilla diffamiert. Dabei wollen wir nur eine bessere Ausbildung für unsere Schüler.“

Angeblich fehlt das Geld

Der Streik ist mit landesweit 320.000 LehrerInnen der größte – und längste – seit Jahren. Acht Millionen Kinder können seit dem 11. Mai nicht mehr zur Schule gehen. In der Hauptstadt Bogotá sind fast eine Million SchülerInnen betroffen. Derzeit sieht es nicht nach einer schnellen Einigung mit der Regierung aus. Die wichtige LehrerInnengewerkschaft Fecode fordert bessere Arbeitsbedingungen für die LehrerInnen: Angleichung des Lohnniveaus an das anderer Staatsangestellter, eine Reform der Lehramtsausbildung, besseren Zugang der LehrerInnen zum Gesundheitssystem. Zudem fordern die LehrerInnen vom Staat langfristige Bildungsinvestitionen: Zuschüsse bei Essen und Bustickets für arme Familien, mehr Investitionen in öffentliche statt in private Universitäten, sowie eine Erhöhung des Bildungsetats auf 7,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Insgesamt 30 Forderungen umfasst die Liste, die die Gewerkschaft dem Bildungsministerium im Februar überreicht hat. Doch in vielen Streitpunkten lautete die Antwort der Regierung: Dafür ist kein Geld da. „Der gesunkene Ölpreis ist dafür verantwortlich, dass wir die Haushaltsmittel in verschiedenen Bereichen senken mussten“, erteilte Präsident Juan Manuel Santos Anfang Mai den Forderungen eine Absage. „Wir können nicht mehr anbieten.“ Am selben Tag brach die Gewerkschaft die Verhandlungen ab und rief zum Generalstreik auf. „Der Präsident hält nicht Wort“, fasst María Alarcón zusammen. „Deswegen streiken wir.“

Tatsächlich hatte Santos im Wahlkampf 2014 versprochen, im Fall seiner Wiederwahl den Bildungshaushalt bis 2018 auf sieben Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erhöhen – und sich dadurch die Unterstützung der Lehrergewerkschaft zugesichert. Von dem Ziel ist Kolumbien aber weit entfernt: In diesem Jahr fließen 3,8 Prozent des BIP in Bildung. Laut dem Präsidenten hat das Land dennoch das „größte Bildungsbudget in der Geschichte verabschiedet, weit über dem der anderen Ressorts“. Bildung, beteuerte Santos zuletzt vergangene Woche in einer Fernsehansprache, hätte in seiner Amtszeit von Beginn an Priorität gehabt. Als Beleg dafür führt er an, dass die Regierung sich an die mit den LehrerInnen 2015 ausgehandelte Lohnangleichung gehalten hat – die ihnen dieses Jahr eine Lohnerhöhung von 8,75 Prozent beschert. Bis 2019 bekommen LehrerInnen insgesamt 12 Prozent mehr Lohnaufschlag als die übrigen Staatsangestellten. Mehr sei einfach nicht drin, schloss der Präsident.

Der Chef der Lehrergewerkschaft Fecode, Carlos Rivera, kontert, dass es bei dem Streik um weit mehr ginge als die Lohnforderungen einer unterbezahlten Angestelltengruppe: „Während des Wahlkampfes hat uns Santos Zuschüsse für Schulessen und Bustickets der Schüler sowie für die Ganztagsbetreuung zugesagt. Er hat versprochen, Kolumbien bis 2025 zum Land mit dem besten Bildungssystem in Lateinamerika zu machen. Wenn er jetzt kein Geld investiert, war das reine Demagogie.“ Durch den Frieden mit der Farc-Guerilla, so der Gewerkschaftschef, spare der Staat dieses Jahr 28 Milliarden Pesos (8,5 Millionen Euro) und habe zudem Mehreinnahmen aus Steuerreform und angehobener Mehrwertsteuer. „Und da behauptet der Staat, er habe kein Geld für Bildung? Diese Ausrede lassen wir nicht gelten.“ Die Botschaft: Wenn Santos seine Wahlkampfversprechen nicht hält, geht der Streik weiter.

Eine Drohung, auf die die Regierung mit Sanktionen antwortet. Vor einer Woche erließ das Bildungsministerium einen Erlass, nach dem die LehrerInnen für die Dauer des Streikes nicht bezahlt werden. Die bereits vergüteten Tage müssen sie nun während der bevorstehenden Schulferien im Juni und Juli ableisten. „Die Priorität der Regierung ist, dass die Kinder und Jugendliche die Schulstunden nachholen, die ihnen durch den Streik verloren gegangen sind“, rechtfertigt Bildungsministerin Yaneth Giha Tovar die Maßnahme. Für María Alarcón und ihre KollegInnen auf der Demo ist das reine Schikane: „Da sieht man, wie der Staat uns unsere Arbeit dankt.“

Das Bild, das die LehrerInnen vom öffentlichen Schulsystem zeichnen, ist düster. Klassen mit über 40 Kindern, von denen ein Großteil aus armen Verhältnissen stammt. Die Eltern haben nicht das Geld für eine der vielen teuren Privatschulen. Wegen des bewaffneten Konflikts im Land wachsen die Kinder oft ohne Vater auf. Anstatt sie mit multimedialem Unterricht für das Lernen begeistern und ihnen mit Schulangeboten Halt geben zu können, müssten sie mitansehen, wie Kinder ab 13 Jahren in die Kriminalität abrutschen. „An jeder öffentlichen Schule in Bogotá gibt es Probleme mit Drogen und Gewalt“, sagt eine Lehrerin, die seit 25 Jahren Sozialkunde unterrichtet. „Wir helfen den Kindern, wo wir können. Aber wir sind einfach zu wenige.“

„Die Versäumnisse der Regierung im Bildungsbereich sind eklatant“, stellt Fabio Jurado Valencia fest. „Das fängt bei der sinnlosen Verschwendung von öffentlichen Geldern an und hört bei falschen Anreizen auf.“ Seit 1988 arbeitet der Literaturwissenschaftler am Institut für Bildungsforschung der renommierten Universidad Nacional de Colombia. Für das Bildungsministerium unter Santos hat er Gesetzesvorlagen begutachtet und Studien zum Schulsystem angefertigt. Sein Fazit: „Im Bildungsministerium herrscht totales Chaos.“ Die Empfehlungen der Studie für ein besseres Schulsystem: zwei Jahre Vorschule, damit die Kinder nicht schon mit fünf Jahren in die Grundschule kommen und mit 15 an die Universität; Klassenleitungen, die die Kinder über mehrere Jahre begleiten sowie verlängerte Mittelstufen, in der SchülerInnen eigene Schwerpunkte setzen, um sich auf die Studienwahl vorzubereiten. All das hat das Ministerium noch nicht mal veröffentlicht. Geschweige denn umgesetzt.

40 Prozent kündigen

„Weil wir links und Gewerkschafter sind, werden wir als Guerilla diffamiert. Dabei wollen wir nur eine bessere Ausbildung für unsere Schüler. Deswegen streiken wir“María Alarcón, Lehrerin

Selbst angekündigte Reformen verschwinden auf Nimmerwiedersehen in ministeriellen Schubladen. So dürfen viele Unis im Land weiter LehramtsstudentInnen im Fernstudium ausbilden, obwohl das Ministerium schon vor Jahren kritisiert hat, dass ein Großteil der AbsolventInnen den Anforderungen nicht genüge. Andere Reformen wiederum machten keinen Sinn, so Jurado. So dürfen heute auch IngenieurInnen, HistorikerInnen oder KünstlerInnen ohne Lehramtsabschluss in den Schuldienst eintreten. Auch deshalb, glaubt Jurado, sei in Bogotá die Kündigungsquote der LehrerInnen im ersten Arbeitsjahr auf 40 Prozent gestiegen. „Die Lehrer sind schlecht vorbereitet und schlecht bezahlt. Dazu kommen die vielen Herausforderungen mit orientierungslosen Jugendlichen“, sagt Jurado.

Dass die LehrerInnen nun vom Staat eine langfristige Planung fordern, begrüßt Jurado: „Das ist bei unserem Bildungssystem dringend notwendig.“ Im Gegensatz zur Gewerkschafterin María Alarcón glaubt er jedoch, dass die Regierung bald ein neues Angebot vorlegen wird. Schließlich wolle Santos nicht nur als Friedenspräsident in die Geschichte des Landes eingehen, sondern auch als derjenige, der Kolumbien in die exklusive Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geführt hat. Um in den Club aus aktuell 35 Staaten aufgenommen zu werden, erließ Santos 2014 einen Nationalen Entwicklungsplan, der auf insgesamt 44-OECD-Forderungen basiert – darunter die Erhöhung der Bildungsausgaben und der Bildungsqualität, sowie der Chancengleichheit.

Doch gerade der letzte Punkt stößt den LehrerInnen auf: Zwar hat Santos ein Programm aufgelegt, mit dem jährlich 10.000 SchülerInnen aus armen Familien, die bei den Abiturprüfungen gut abschneiden, kostenlos in einer der renommierten Unis im Land studieren dürfen. In der Liste sind aber überwiegend private Unis. Statt mehr Studienplätze an den öffentlichen Hochschulen zu ermöglichen, werden de facto die teuren privaten Unis bezuschusst. Und das Programm hat noch einen Haken: Wer das Studium abbricht, muss die hohen Studiengebühren zurückzahlen. „Noch gibt es keine AbsolventInnen“, sagt Lehrerin María Alarcón. „Aber es kann sein, dass das Programm mehr Schüler verschuldet als zum Aufstieg verhilft.“

Für diese Woche sind weitere Streiks angekündigt.

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