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Teenager im Fitnesswahn

Aktiv Das Turnfest bietet nicht nur Sport zum Zuschauen, sondern auch zum Mitmachen: Beim neuen Projekt „Kiez aktiv“ dürfen sich BerlinerInnen kostenlos ausprobieren. Trendsportarten im Fokus

Proben hinter den Kulissen der sogenannten Tuju-Show für Kinder und Jugendliche. Unter dem Motto „Mal eben meine Welt retten“ präsentieren in der Show ausgewählte Gruppen der Deutschen Turnerjugend ihr Können am Donnerstag auf dem Messegelände Foto: Sebastian Wells

von Alina Schwermer

Die kleine Karawane kommt souverän um die Ecke gepaddelt. Auf ihren Boards stehend, an den Stegen vorbeinavigierend, Paddel ins Wasser, aus dem Wasser, ins Wasser, Gleichgewicht passt. Total tiefenentspannt und lässig dafür, dass sie das hier größtenteils zum ersten Mal machen. Das Internationale Deutsche Turnfest – so der lange offizielle Titel – in Berlin besteht ja nicht nur aus diesen hübschen Feierlichkeiten am Brandenburger Tor. Turnfest ist auch hier an der Zitadelle Spandau, im entlegensten Winkel an der Wassersportanlage, schwer zu finden und trotzdem von Jugendlichen fast überrannt.

Stand Up Paddling, kurz SUP – ausgesprochen wie das Brot bei Subway, das Verb heißt lautmalerisch so in etwa „sabben“ –, ist der Sport, den es hier kostenlos auszuprobieren gibt: Man steht auf einem Board, das auf dem Wasser liegt, und paddelt in bestenfalls gutem Gleichgewicht über Flüsse und Seen. Ambitionierte Geister machen das sogar als 24-Stunden-Rennen, als Marathon oder gleich um die ganze Welt. Die sehr sportlichen Menschen, meist irgendwo zwischen 15 und 25 Jahre alt, fallen dabei nicht mal ins Wasser. Vielleicht doch ein Klacks, dieses Paddeln. Dann sind sie fix wieder weg, zum nächsten Angebot.

„Stand Up Paddling ist jung und hip“, sagt Abteilungsleiter Oliver Tusche von den Wasserfreunden Spandau. „Das zieht, besonders, weil es Outdoor ist.“ Und: „Die meisten lernen es innerhalb von einer Stunde.“

Tusche, ein rauschbärtiger Typ mit Piratenkopftuch, der jedes Seefahrerklischee erfüllt und tatsächlich auch segelt, koordiniert das ganze Gepaddel an der Zitadelle Spandau. Er bietet während des Turnfestes eine von offiziell über 1.000 Mitmachmöglichkeiten in den Kiezen.

Die Idee dahinter: Jeder soll kostenlos quer durch Berlin Sportarten ausprobieren können. „Kiez aktiv“ nennt sich das neue Projekt, das das Turnfest auch fernab vom Messegelände bei den Berlinern und in den Vereinen verankern soll. Idealerweise mit Langzeiteffekt.

Dabei muss sich die Berliner Sportszene eigentlich nicht über zu wenig Zuwachs beschweren: Nach einer Statistik des Landessportbundes (LSB) sind aktuell rund 650.000 Berliner im Verein aktiv, so viele wie noch nie seit Erfassung der Zahlen. Allein im vergangenen Jahr kamen 10.000 neue Mitglieder hinzu, im vergangenen Jahrzehnt waren es beinahe 100.000. Den größten Zuwachs verzeichnet zwar erwartungsgemäß der Fußball. Aber der Turn- und Freizeitsport-Bund folgt in der Statistik der Verbände schon an zweiter Stelle mit rund 3.000 neuen Mitgliedern im letzten Jahr.

Zuzug, Fitnesstrend, gesundheitsbewusste Jugend: Der Sportverein boomt weiter, trotz Konkurrenz durch Sportstudios. Auch der Spandauer Wassersport erlebt einen Andrang: „Wir haben in allen Bereichen Wartelisten“, so Oliver Tusche. Warum man dann mit Trendsport wie Stand Up Paddling wirbt? „Wir wollen mehr Breitensport für Jugendliche und Familien. Das ist ein hippes, wichtiges Standbein.“

Turnfest mit Spitzensport und Breitensport noch bis Samstag

Das Turnfest findet seit letztem Wochenende und noch bis Samstag in Berlin statt. Die meisten Veranstaltungen sind auf dem Messegelände – es gibt aber auch quer durch Stadt und Kieze Programm: eine Mischung aus Spitzensport und Breitensport. Etwa 80.000 aktive Teilnehmer sind dabei, außerdem viele Tagesbesucher.

Kiez aktiv heißt das neue Projekt, das es erstmals bei einem Turnfest gibt und die BerlinerInnen einbeziehen soll. Die Berliner Sportvereine bieten noch bis zum 10. Juni nach offiziellen Angaben über 1.000 kostenlose Schnupperkurse in den verschiedensten Sportarten. Das Programm gibt es online unter berlin-turnt-bunt.de/datenbank-kiez-aktiv.html.

Mitmachen kann beim Turnfest jeder, egal wie alt, vom Kindes- bis Seniorenalter. Wer sich für einen Kurs interessiert, ruft am besten vorher an und fragt, ob noch Plätze frei sind und die Veranstaltung wie angegeben stattfindet. Eine Anmeldung ist nicht verpflichtend, man kann auch einfach spontan vorbeischauen. (asc)

Lockmittel Trendsportarten

Trendsportarten locken Teenager an – laut LSB gibt es rund 130 verschiedene Sportarten in Berlin, davon viel Trendsport, und auch für Wassersportvereine ist die Bandbreite wichtig. „Viele Kanuvereine etwa haben ein Überalterungsproblem“, so Tusche. „Sie suchen eine breitere Basis jenseits vom Leistungssport.“ Ein Kollege bei einem anderen Berliner Verein habe mit Stand Up Paddling 120 neue Mitglieder geworben, davon die Hälfte Jugendliche. Natürlich sei es nicht jedem alteingesessenen Mitglied recht, wenn es plötzlich so jung und laut auf dem Vereinsgelände werde. Aber man müsse das so machen. Und beim jungen Turnfest ist SUP einer der Renner. Die Probestunden für heute? Alle ausgebucht, nichts geht mehr.

Der Effekt bei den Wasserfreunden Spandau ist der Idealfall. Beim letzten Turnfest, das in Berlin stattfand, habe man es nicht geschafft, dass genug davon in der Stadt hängen bleibe, sagt Kati Brenner, Geschäftsführerin des Organisationskomitees, der taz. „Kiez aktiv“ soll mehr Begeisterung bei den Berlinern selbst wecken. Auch, weil das Turnfest im letzten Jahrzehnt Schwierigkeiten bekam, Menschen zu mobilisieren.

2005 waren es in Berlin noch 120.000 Teilnehmer, diesmal werden nur noch 80.000 erwartet. Beim Turnfest vor vier Jahren waren es sogar nur 50.000 Aktive. Die Hauptstadt als Austragungsort zieht jetzt wieder mehr Teilnehmer, immerhin ist ja die Stadt selbst jung und hip. Und den Berliner Sportvereinen soll Publicity geboten werden.

Die Begeisterung ist dabei allerdings sehr unterschiedlich verteilt. Ein paar Haltestellen von der Zitadelle entfernt, in der Schule an der Jungfernheide, sitzen zwei alte Volunteer-Damen allein vor einer Schüssel Bananen. Eigentlich soll hier laut Programm ein Probetraining im Karate stattfinden. Das fällt aus, weil man am Pfingstfeiertag nicht genug Leute erwartet – von den Turnfest-BesucherInnen hatte offenbar niemand Lust auf Karate, jedenfalls taucht keiner auf. Auch der anschließende Kung-Fu-Kurs, der im Programm steht, findet nicht statt. Im ziemlich unübersichtlichen Onlineplaner gibt es allerdings keinen Hinweis darauf. Absagen erfährt man erst vor Ort.

„Wir wollen mehr Breitensport für Jugendliche und Familien. Das ist ein hippes, wichtiges Standbein“

Oliver Tusche, Wasserfreunde Spandau

Sowieso ist dieser Planer ein gewisses Hindernis: Sehr viel Geklicke, und zwischendrin stehen jede Menge vergangener Termine vom März oder April, die gar nichts mit dem Turnfest zu tun haben. Die nächste Veranstaltung, der Rollator-Führerschein am Platz der Republik, ist entgegen der Angabe im Plan schon eine Stunde früher zu Ende. Anderes ist schon ausgebucht, auch das wird von vielen Vereinen nicht upgedatet: Oliver Tusche muss an der Zitadelle ab dem Nachmittag viele enttäuschte Gruppen wieder wegschicken, die extra nach Spandau fuhren. Zu voll, zu wenige Boards.

Die Parkour-Gruppe vom TSV Haar bei München ist eine von denen, die sich eines der begehrten Probetrainings gesichert haben. Auch sie sind ziemlich begeistert vom Stand Up Paddling, auf jeden Fall wieder. Natürlich nicht bei den Wasserfreunden Spandau; in ein paar Tagen geht es wieder ins heimatliche München. Und auch die beiden Gruppen aus Baden-Württemberg und Niedersachsen werden eher nicht als Mitglieder bei Berliner Vereinen aufschlagen. „Das ist der Preis des Ganzen“, sagt Abteilungsleiter Tusche. „Es kommen viele zum Probetraining, die nicht hier wohnen.“

Schlimm findet Tusche das nicht. „Viele Berliner Vereine sind sowieso schon voll. Es kann nicht immer was hängen bleiben. Wir können den Leuten auch einfach mal was bieten.“ Und etwas bleibt ja doch, zumindest an der Wassersportanlage: „Es waren auch Spandauer hier“, so Tusche. „In den letzten zwei Tagen haben wir acht bis neun neue Mitglieder bekommen.“ Im August soll es hier mit festen SUP-Angeboten losgehen.

Die Jungs und Mädels vom TSV Haar ziehen unterdessen weiter. Bouldern würden sie gern ausprobieren. Auch das so eine junge, hippe Sportart.

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