Sträflingsprojekt

„Leonhard“: So heißt die Initiative, die aus Gefängnisinsassen ­Unternehmer macht und sie zurück in ein geregeltes Leben führt

Mit 22 Jahren war Alexander B. ein Drogendealer, bis die Polizei seine Wohnung stürmte Foto: Volkmar Könneke

Ex-Knacki und selbstständig

Alexander B. hat „kiloweise“ mit Heroin gehandelt. Sechs Jahre musste er dafür einsitzen. Dank „Leonhard“ hat er sich wieder etwas aufbauen können: Heute arbeitet er als Metall-Facharbeiter im bayrischen Günzburg

Aus Günzburg und München Patrick Guyton

Jetzt kann Alexander B. also im Café draußen in der Sonne sitzen. Es liegt am Marktplatz in Günzburg. Ein Frühlingstag, er blinzelt und schaut auf die Flaniermeile des Städtchens. „Günzburg ist toll, gerade richtig: klein, überschaubar, aber alles da – und man kennt sich noch“, sagt er.

B.s Frühschicht als Metall-Facharbeiter ist zu Ende, er hat Zeit sich zu unterhalten. „Wir waren vier Bosse auf einer Ebene“, erklärt er. Alexander B. war zuständig für den Schmuggel nach Deutschland, der Stoff kam hauptsächlich über Rotterdam. „Wir haben kiloweise mit Heroin gehandelt.“ Das Verbreitungsgebiet erstreckte sich quer über den Süden der Republik. „Augsburg, Heidenheim, Pforzheim“, erinnert sich B., ein durchtrainierter Mann von 29 Jahren.

Über den Drogenring sagt er: „Die Kleinen unten habe ich gar nicht gekannt.“ Da war er 22. Eines Nachts um drei trat ein Sondereinsatzkommando der Polizei in Günzburg die Tür zu seiner Wohnung ein. B. erhielt neun Jahre und drei Monate. Sechs Jahre saß er, dann kam er wieder raus. „Ich weiß nicht, wie viele Menschen durch meine Hand gestorben sind“, sagt er. Und die Gefängnisstrafe? „Die hat sein müssen.“

Dass Alexander B. jetzt in Freiheit in der Sonne sitzen kann, hat er auch einem in Deutschland einzigartigen Gefangenen-Projekt aus München zu verdanken: „Leonhard“ heißt es, benannt nach dem katholischen Heiligen Leonhard, dem Schutzpatron der Inhaftierten.

„Unternehmertum für Gefangene“ lautet der Slogan. Das Ziel: Gefängnisinsassen sollen vor ihrer Entlassung fit gemacht werden für das Leben und die Arbeit draußen – und für die Möglichkeit, ein kleines Unternehmen zu gründen. Denn bei vielen Verurteilten bestehe großes Potenzial, sagt Geschäftsführerin Maren Jopen. „Es wurde nur in die falsche Richtung geleitet.“

Die 38-jährige Betriebswirtin organisiert seit sechseinhalb Jahren das Projekt in den Büroräumen im Münchner Vorort Gräfelfing. Und sie unterrichtet selbst im Gefängnis. Acht Uhr am Morgen hinter den Mauern der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim. Bei „Leonhard“ steht Vertriebstraining an. Bevor die Businesslehrer den Schulungsraum erreichen, muss jeder den Ausweis abgeben, sowie Schlüssel, Geld, Feuerzeug, Zigaretten, Lippenstift, Bonbons, Uhr und Handy – nichts darf mit in den Knast, der für 1.379 Häftlinge ausgelegt ist. Dann geht es einzeln durch eine Metallschleuse.

Im Schulungsraum haben sich die 16 Gefangenen aufgestellt. Sie sind zwischen 23 und 58, sie tragen blaue oder graue Haftkleidung. Viele sind muskulös, tätowiert. „Bei mir gibt es hoffentlich bald die besten Döner der Welt“, tönt ein junger Mann mit Pferdeschwanz. Nacheinander erzählt jeder von seiner Geschäftsidee. Ein älterer will ein „Seminarzentrum für Bewusstseinsentwicklung“ errichten und sagt: „Gründe dein Leben, lebe deinen Traum!“ Weiter im Angebot: Herstellung von individuellen Design-Küchen oder die Wiedereröffnung eines Fliesenleger-Betriebes.

Von Kalifornien inspiriert

Das Potenzial der Verurteilten sei nur in die falsche Richtung geleitet worden

Bernward Jopen, Leonhard-Gründer und Vater von Maren Jopen, führt in Stadelheim durch den Vormittag, er scheint hier ganz zu Hause. „Ich bin keine männliche Mutter Theresa“, sagt er in einer Pause. „Wir machen aus Knackis tüchtige Unternehmer.“ Jopen, 74 Jahre alt, weiß-grauer Haarkranz, führte selbst ein Unternehmen, das er zu seinem Ruhestand verkaufte. Damals hörte er von einem Projekt in Kalifornien, das Gefangene zu Selbstständigen ausbildet, weil sie auf dem normalen Arbeitsmarkt wegen ihrer Vorstrafe häufig keine Chance haben. Er fuhr hin, schaute es sich an und beschloss: „So etwas machen wir in Deutschland.“

Heute hat Jopen 20 Mentoren ins Gefängnis mitgebracht, Leute aus der Münchner Geschäftswelt, die „Leonhard“ ehrenamtlich unterstützen. Sie geben Kurse oder stehen für das Vertriebstraining zur Verfügung. Es ist ein Rollenspiel. In vier Gesprächsrunden geben sich die Mentoren als freundliche Kunden oder kritische Investoren aus. Jeder Gefangene hat einen Mentor gefunden. 30 Minuten dauert eine Runde.

Da ist der junge Mann mit der Dönerladen-Idee. „Es gibt qualitativ hochwertiges Fleisch“, berichtet der Häftling, „wir spießen es täglich selbst und frisch. Wir bevorzugen Bioprodukte, auch die Saucen machen wir selbst.“ – „Wie viel kostet dann ein Döner?“ Der Mann ist ein wenig ratlos. „20 bis 30 Prozent mehr als bei der Konkurrenz“ antwortet er. „Aber nicht für Schüler, die bekommen einen eigenen Tarif!“

Von Runde zu Runde wird die Döner-Idee stärker abgeklopft. Wie kann er hochpreisige Döner anbieten und zugleich Schüler ansprechen, die wenig Geld haben? Wo soll der Laden sein? Wie steht es um die Konkurrenz? Wie viel Umsatz strebt er an? Welchen Gewinn? Auf vieles weiß er eine Antwort, auf manches nicht. Die Gefangenen sitzen den Mentoren gegenüber, sie stecken die Köpfe zusammen. Ein Summen geht durch den Raum. Pause. Die 16 Häftlinge verschwinden – zum Rauchen.

Auch Mark C. ist ein „Leonhard“-Absolvent. Vor zwei Jahren wurde er entlassen. Jetzt ist der 33-Jährige den Sommer über schon komplett mit Aufträgen eingedeckt. Er ist selbstständig und montiert Fotovoltaik­anlagen auf Gebäude. Einen Angestellten hat er auch. Gern will Mark C. davon berichten, aber nur am Telefon. Ein Treffen hat er abgelehnt. Seine Kunden sollen nicht erfahren, was für eine Vorgeschichte er hat. C. saß drei Jahre wegen des Handels mit Haschisch. „Mir war vollkommen bewusst, was ich tat.“ Er selbst hat viel gekifft, ging als gelernter Koch mit einem Restaurant pleite, hatte einen „extrem hohen Lebensstandard“. Über seine kriminelle Zeit urteilt er: „Ich war ein egomanischer Arsch.“

Eine neue Existenz

Mit einer Jugendfreundin lebt C. zusammen in Oberbayern. Aus dem Knast hatte er der Frau geschrieben, so wurde der Kontakt wiederbelebt. Abends und an freien Tagen kümmert er sich um den gemeinsamen sieben Monate alten Sohn. „Letzte Woche ist er zum ersten Mal gekrabbelt.“

Die Insassen stellen Unternehmern ihre Ideen vor Foto: Cordula Flegel

„Leonhard“ funktioniert: 60 Prozent der Teilnehmer finden einen Monat nach der ­Entlassung eine Beschäftigung oder studieren, knapp 30 Prozent machen sich selbstständig. Neun von zehn Absolventen bleiben dauerhaft straffrei. 9.500 Euro kostet ein Kurs mit 540 Stunden pro Teilnehmer. 80 Prozent davon übernimmt die Arbeitsagentur, der Rest wird aus Spenden finanziert.

Aufgenommen werden Häftlinge, die „nicht ausschließlich anderen die Schuld an ihrer Situation geben“, sagt Maren Jopen. Ausgeschlossen sind Sexualstraftäter und notorische Serienbetrüger.

Den gesamtwirtschaftlichen Nutzen haben die Jopens vom „Institut für Unternehmensrechnung und Controlling“ der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität ermitteln lassen. Demzufolge fließen für einen in das Projekt investierten Euro nach drei Jahren 1,70 Euro zurück. Denn die Kursteilnehmer leben danach meist nicht von Sozialleistungen und kommen auch nicht erneut ins Gefängnis, sondern zahlen Steuern. Trotzdem sei es bitter, sagt Maren Jopen, „wenn Absolventen ihren Weg nicht finden und wieder einwandern“.

„Das sind echt krasse Leute. Die glauben wirklich noch an einen“, sagt der ehemalige Dealer Alexander B. aus Günzburg. „Das Rüstzeug für eine Arbeit draußen, wie man sich im Job bewährt, habe ich von ‚Leonhard‘ bekommen.“ B., der gelernte CNC-Dreher, ist zwar kein Unternehmer geworden, doch im vergangenen Winter erhielt er nach 40 Absagen tatsächlich die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Eineinhalb Stunden löcherte ihn der Fertigungsleiter, am Tag darauf noch einmal genauso lang der Geschäftsführer. „Das war eine harte Nummer.“ Er hat die Arbeit bekommen. B. hat eine sieben Jahre alte Tochter, in ihren ersten sechs Lebensjahren saß er im Gefängnis. Im September wird sie eingeschult, die Schultüte hat er schon gekauft.