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Boris Palmer provoziert Grüne

FLÜCHTLINGE Tübingens Oberbürgermeister fordert seine Partei auf, sich gegen offene Grenzen auszusprechen. Volker Beck kritisiert einen „denunziatorischen Duktus“

von Ulrich Schulte

BERLIN taz | Eigentlich haben die Grünen genug Probleme. Die Partei ist in den Umfragen abgesackt, das offiziell ausgegebene Ziel „deutlich zweistellig“ für die Bundestagswahl liegt in weiter Ferne. Mit einem Fokus auf Ökologie und viel Geschlossenheit will die Ökopartei gegensteuern.

Doch nun droht Streit in der Flüchtlingspolitik. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer fordert einen härteren Sound seiner Partei. „Europa muss in der Lage sein, die Außengrenzen eigenständig zu sichern“, fordert der überzeugte Realo in einem Antrag für den Bundesparteitag Mitte Juni. Auf diesem will die Ökopartei ihr Programm für die Bundestagswahl festzurren.

Angesichts von 60 Millionen Flüchtlingen weltweit, der Lage in Syrien und einer stark wachsenden Migrationsbewegung aus Afrika „sind offene Grenzen keine Option“, heißt es in dem Antrag. Palmer und Mitunterzeichner aus Kreisverbänden schreiben: „Wir können nicht allen Menschen, die aus guten Gründen nach Europa kommen wollen, helfen.“ Würden diese Passagen beschlossen, verschärften sie den Tonfall der Grünen. Im Antrag des Vorstands heißt es lediglich: „Statt die Grenzen dicht zu machen, setzen wir auf sichere Zugangswege nach Europa, etwa durch ein großzügiges EU-Kontingent bei der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei.“

Palmers Plädoyer sorgt bei den Grünen für böses Blut. „Aufgabe des Parteitags ist es meines Erachtens, unser Profil als Bürgerrechtspartei und Partei des Rechtsstaatsliberalismus zu schärfen, statt wie ein Weihnachtsbaum im Sommer in alle Richtungen zu blinken“, sagt Volker Beck, Migrationsexperte der Bundestagsfraktion. „Palmers denunziatorischer Duktus gegenüber einer menschenrechtlich orientierten Flüchtlingspolitik ist unsäglich.“

„Boris Palmer konstruiert eine falsche Realität“

Erik Marquardt, Parteiratsmitglied

Erik Marquardt, Mitglied im Grünen-Parteirat, hat bereits einen Gegenantrag formuliert. „Boris Palmer konstruiert eine falsche Realität“, sagt Marquardt. Die EU habe sich durch das Abkommen mit der Türkei und die Schließung der Balkanroute längst abgeschottet. Geflüchtete würden an der Grenze Bulgariens verprügelt, teilweise beschossen. „Palmer suggeriert, Millionen von Menschen könnten einfach so in die EU spazieren“, sagt Marquardt. „Er betreibt Angstmache.“

Dass der Vorstoß auf dem Parteitag beschlossen wird, halten erfahrene Parteistrategen für unwahrscheinlich. Bisher hat ihn kein anderer prominenter Grüner unterschrieben. Bei den Grünen ist zudem immer wieder zu beobachten, dass einzelne Grüne scharfe Kurskorrekturen vor Parteitagen fordern, um in die Presse zu kommen – ihre Anträge dann aber nicht zur Abstimmung stellen. Palmers Interesse könnte also auch reine PR sein.

Allerdings trifft sein Anliegen einen wunden Punkt. Die Grünen neigen in der Flüchtlingspolitik zu einer Rhetorik, die ihre tatsächliche Position weichzeichnet. Sie sind zum Beispiel mitnichten für offene Grenzen, drücken sich aber gerne davor, die Notwendigkeit von Grenzschutz zu thematisieren. Ebenso vermeiden grüne Spitzenleute das Wort „Abschiebung“, obwohl grün-mitregierte Länder Geflüchtete ohne Bleiberecht in ihre Heimat zurückschicken. Im Jahr 2015 lobten die Grünen Kanzlerin Merkel lange, obwohl sie früh für abgeschottete EU-Außengrenzen kämpfte.

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