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Vormittags unterrichten, nachmittags an der Uni

Personalmangel An Österreichs Schulen fehlen Lehrkräfte. Rund 1.000 Lehramtsstudierende helfen derzeit aus – es dürften noch mehr werden

Unterrichtet hier Mathe und Spanisch: Sophie Fernández vor der Radetzkyschule in Wien Foto: Ralf Leonhard

Aus Wien Ralf Leonhard

Als Sophie Fernández zum ersten Mal als Lehrerin vor der Klasse stand, hatte sie jede Minute ihres Unterrichts akribisch geplant: „Ich wusste ganz genau, was ich sage, was ich an die Tafel schreibe, welche Übungen im Buch ich mache“. Die 23-Jährige unterrichtet mittlerweile seit gut anderthalb Jahren Spanisch und Mathematik an der Radetzkyschule in Wien, einem Gymnasium im 3. Bezirk. 200 Meter nördlich des Schulgebäudes fließt die Donau, das berühmte Hundertwasserhaus ist ganz in der Nähe.

Das Besondere an Fernández’ Schulalltag: Ihren Uniabschluss machte sie erst vor einem Jahr. Davor war Fernández über ein halbes Jahr gleichzeitig Lehrerin und Studentin. Wie derzeit rund 1.000 Studierende in Österreich, die den Personalnotstand an den Schulen im Land überbrücken sollen. Fernández bekam aber kein Stellenangebot vom Ministerium: Bei einem Arztbesuch, erinnert sie sich, habe sie eine Freundin ihrer Mutter angesprochen, ob sie schon fertig sei. An ihrer Schule, sagte die Freundin, würde dringend eine Lehrkraft für Spanisch gesucht. Fernández, deren Vater Spanier ist, bewarb sich am folgenden Tag und stand kurz darauf in der Klasse. Nebenbei musste Fernández, die in Österreich geboren und aufgewachsen ist, noch zwei Seminare besuchen und ihre Abschlussarbeit ­schreiben. Von der Arbeit ging sie dann direkt auf die Uni-Bibliothek. Und damit war ihr Arbeitstag noch nicht zu Ende: „Dann bin ich nach Hause gekommen, habe um zehn Uhr zu Abend gegessen und weitergeschrieben. Ich konnte nicht schlafen gehen.“

Monatelang habe sie, sagt Sophia Fernández, die ihren richtigen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, ein Doppelleben geführt: „Auf der einen Seite Studentin, auf der anderen Lehrerin als Autoritätsperson mit Vorbildwirkung.“ Sie wollte so schnell wie möglich ihr Studium abschließen „weil ich viele kenne, die das Studium schleifen lassen, wenn sie Arbeit haben“. Der Einsatz hat sich ausgezahlt: Aus ihrem Freundeskreis war sie die Erste, die den Magistertitel in der Tasche hatte. Einige ihrer Kommilitoninnen, verrät Fernández, würden noch immer studieren.

3.000 gehen, 1.400 kommen

Noch vor 15 Jahren hatte man angesichts einer vermeintlichen Lehrerschwemme jungen Leute vom Lehramtsstudium dringend abgeraten. Inzwischen werden in Österreich besonders in naturwissenschaftlichen Fächern dringend Lehrkräfte gesucht. Der Personalbedarf könnte sich schnell in einen Mangel verwandeln: Bis 2025 gehen in Österreich nach Angaben des Bildungsministeriums jedes Jahr 3.000 bis 4.000 Lehrer in Pension – insgesamt 34.000 der derzeit 120.000 Lehrkräfte. So viele Lehrkräfte kommen aber nicht nach: Rund 1.400 werden jedes Jahr mit dem Studium fertig. Und dieses Jahr sieht es besonders mau aus: Da in Österreich gerade die Lehrerausbildung verlängert wurde, ist das neue Personal erst im kommenden Jahr fertig. Dieses Jahr kommen nur ein paar Nachzügler des alten Studiums auf den Markt.

Bildungsministerin Sonja Hammerschmid (SPÖ) will dem Problem mit der Schaffung von „Schul-Clustern“ begegnen. Mehrere Schulen sollen dann eine gemeinsame Schulleitung haben. „Wir haben zurzeit das Problem, dass Schulen nach einer gewissen Fächerkombination suchen. Im Cluster kann ich an einer Schule Mathematik unterrichten und an der anderen Schule Physik“, so eine Stellungnahme aus dem Bildungsministerium. Die Reform trifft allerdings auf den Widerstand der ÖVP-nahen Lehrergewerkschaft und ist noch nicht durchs Parlament. Man behilft sich mit Studierenden oder teilweise mit pensionierten LehrerInnen.

So müssen es die Studierenden richten. Eine Kommilitonin von Fernández wurde noch früher von einer Schule angeworben. Ihre Fächerkombination Mathe und Physik war gerade sehr gesucht. Sie hat wie Fernández die Erfahrung gemacht, zu dem Zeitpunkt überhaupt noch nicht für die Praxis vorbereitet gewesen zu sein. „Wie die Unterrichtspraxis aussieht, lerne man auf der Uni viel zu wenig“, erzählt Fernández. Die ersten pädagogischen Praktika würden erst nach zwei Jahren angeboten. Da war sie auch erstmals an einer Schule: „Es ist ja erschreckend: Du studierst zwei Jahre, ohne zu wissen, ob du für den Unterricht wirklich geeignet bist.“ In der Praxis sieht man bald, dass die Vorbereitung, wie man sie auf der Uni lernt, auf die Dauer nicht möglich ist. „Das ist zeitintensiver als die tatsächliche Unterrichtsstunde. Für den Alltag im Vollzeitbetrieb ist das nicht realistisch.“ Im ersten Unterrichtsjahr hatte sie nur sechs Stunden Spanisch und war damit voll ausgelastet.

Monatelang führte Fernández nach der Schule ein Doppel­leben als Studentin

Volle Stelle an drei Schulen

Inzwischen hat sie eine volle Lehrverpflichtung von 20 Stunden, allerdings aufgeteilt auf drei Schulen. Sechs Stunden für das erste Jahr höre sich wenig an, sagt Fernández, doch das werde unterschätzt. Spanisch ist ein Hauptfach mit Schularbeiten wie Mathe oder Deutsch. „Da brauchst du Zeit zum Korrigieren der Hausübungen und für die Vorbereitung.“

Doch Sophie Fernández hatte Glück mit ihren ersten Klassen, davon eine Anfängerklasse und die andere im zweiten Lernjahr. „Der Schuleinstieg war wundervoll dank meiner Schüler, sie waren sehr liebevoll und zuvorkommend, sodass ein reibungsloser Ablauf möglich war.“ Später hat sie erfahren, dass sie „hinter meinem Rücken bei der Schulleitung waren, weil sie mich nicht gehen lassen wollten. Das zeigt einem, dass einen die Kinder annehmen.“ Immer wieder seien auch Schüler nach der Stunde zu ihr gekommen und hätten ihr etwas erzählt. Zu vielen, die sie jetzt nicht mehr unterrichtet, habe Fernández immer noch Kontakt.

Gleichzeitig wusste sie, dass sie auch streng sein musste, und hat so manches „nicht genügend“ verteilt, wie in Österreich die schlechteste Note, eine Fünf, heißt. Die Autoritätsverhältnisse sind in Wien noch relativ klar. Obwohl sie äußerlich durchaus mit Schülerinnen der Maturaklasse, die vor dem österreichischen Abitur stehen, verwechselt werden kann, ist Fernández die „Frau Professor“. Manche sagen auch „Frau Professorin“.

Die Absicht, ihre SchülerInnen für die spanische Sprache zu begeistern, dürfte aufgegangen sein. „Eine Schülerin vom letzten Jahr macht jetzt ein Auslandsjahr in Costa Rica. Sie hat mir geschrieben, dass ich der Grund war, dass sie sich dazu entschlossen hat, weil ich ihr gezeigt habe, wie schön die Sprache ist. Ich glaube, ich habe viele motivieren können.“ Trotzdem: Sie sei sicher nicht für alle die Lieblingslehrerin gewesen. Und dieses Jahr hat sie auch den Eindruck, dass einige austesten wollen, was sie sich bei der unerfahrenen Lehrerin leisten können. „Da bin ich manchmal an meine Grenzen gestoßen. Man muss den gewissen Grat finden, dass man den Schülern nahe ist, und sie gleichzeitig auf Distanz halten. Es soll sich keine Freundschaft entwickeln.“

Und das ohne Probejahr

Besser bezahlte Stellen in Deutschland können Fernández nicht locken

Den Respekt, glaubt Fernández, hat sie auch bei den KollegInnen. Sie hat nicht den Eindruck, dass hinter ihrem Rücken im Konferenzzimmer getuschelt werde über die junge Kollegin, die noch nicht einmal das Probejahr, wie hier das Referendariat genannt wird, absolviert hat. Vielmehr ist sie voll des Lobes über die Kollegialität, die ihr entgegengebracht werde: „Wenn man Fragen hat, wird keiner sagen, nein, das sag ich dir nicht.“ Sie hat den Eindruck, dass ihr „Vertrauen geschenkt wird, dass ich das kann“.

Trotz der positiven Erfahrungen will Fernández im nächsten Schuljahr das Probejahr nachholen. Notwendig wäre das nicht, denn nach zwei Jahren voller Lehrverpflichtung gilt die Probezeit als erfüllt. Aber sie verspricht sich davon, dass sie dazulernen kann. Sie wird dann je eine Klasse Spanisch und Mathematik unter der Supervision eines erfahrenen Lehrers unterrichten. Da geht es um Dinge wie die richtige Dimensionierung von Klassenarbeiten: Sind sie zu kurz, zu lang, zu schwierig? Wie bringe ich neuen Stoff am besten rüber?

Besser bezahlte Stellen in Deutschland oder der Schweiz können Sophie Fernández nicht locken. Erst vergangenes Jahr versuchte der Berliner Senat, ÖsterreicherInnen mit einem rund doppelt so hohen Gehalt in die deutsche Hauptstadt zu locken. Seit Jahren hat Berlin einige Mühe, seinen Lehrerbedarf zu decken. Letztlich waren nur wenige ÖsterreicherInnen bereit, ihre Heimat zu verlassen. Auch Fernández würde nicht für den Job nach Deutschland gehen. Sie kommt mit ihrem Einkommen aus und will in Wien bleiben.

Pläne für das Ausland hat sie trotzdem: „Nicht in naher Zukunft, aber ich weiß, dass ich irgendwann in Spanien enden werde.“ Dort hat sie – wie in Österreich – Wurzeln. Und deutsche Schulen, an denen sie unterrichten könnte, gebe es dort schließlich auch.

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