: Dulden und dann abblocken
Türkei I In Istanbul kommen nach wie vor abends Demonstranten gegen die Einführung eines Präsidialsystems zusammen. Die Regierung hofft, dass die Märsche bald abebben
Aus Istanbul Jürgen Gottschlich
Damit scheint der rechtliche Weg, die von Erdoğan und seiner AKP am Sonntag knapp gewonnene Volksabstimmung anzufechten, erledigt. Zwar hatte die sozialdemokratisch-kemalistische CHP zuvor angekündigt, sie würden auch das Verfassungsgericht und notfalls den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof anrufen, doch auch das hat wenig Aussicht auf Erfolg.
Wie Justizminister Bekir Bozdağ erklärte, darf das Verfassungsgericht eine Entscheidung der Hohen Wahlkommission per Gesetz gar nicht infrage stellen; und ob und wann der Gerichtshof in Straßburg sich mit den mutmaßlichen Wahlfälschungen beschäftigt und ob das noch irgendeine Wirkung in der Türkei hätte, ist stark zu bezweifeln.
Das sei wie beim Fußball, sagte Präsident Erdoğan am Donnerstag. Knapp gewonnen ist auch gewonnen. Alles andere sei nur die Nörgelei der Verlierer. Dazu zählt Erdoğan auch die Kritik der OSZE-Wahlbeobachterkommission. Die seien wohl mit der PKK im Bunde, mutmaßte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu.
Die regierungsnahe Zeitung Yeni Şafak behauptete dagegen am Donnerstag, die EU-Botschafter in der Türkei, einschließlich des deutschen Botschafters Martin Erdmann, hätten sich am Montag direkt nach der Wahl mit der OSZE-Kommission getroffen und das Ergebnis bestellt. Die deutsche Botschaft bezeichnete den Bericht als „frei erfunden“. Unterdessen demonstrieren in verschiedenen türkischen Städten seit Sonntag jeden Abend Menschen gegen den mutmaßlichen Wahlbetrug.
Die Demonstrationen sind alle wegen des geltenden Ausnahmezustands nicht genehmigt, werden aber bislang noch weitgehend geduldet. Zwar hat es in Antalya und Izmir Tränengaseinsätze der Polizei und Festnahmen von Demonstranten gegeben, doch insbesondere in den Brennpunkten in Istanbul und Ankara hält die Polizei sich noch zurück. Offenbar hofft die Regierung, dass die Märsche irgendwann im Sande verlaufen, wenn man nicht einschreitet.
Tatsächlich kommen zwar noch jeden Abend in den Istanbuler Bezirken Beşiktaş und Kadiköy jeweils rund 1.500 bis 2.000 Demonstranten zusammen, es werden aber auch nicht mehr. Statt die Demonstrationen anzugreifen, hat die Polizei sich bislang auf die Taktik verlegt, die Aktivisten zu beobachten und später festzunehmen. So wurden am Mittwochmorgen 18 Aktivisten der Nein-Bewegung aus ihren Betten geholt und festgenommen, weil sie sich weigerten, das Wahlergebnis anzuerkennen. Auch wurde der Istanbuler Provinzvorsitzende der kleinen linken Partei ÖDP, Mesut Geçgel, festgenommen, wie dieser selbst auf Twitter mitteilte. Nach Informationen der Tageszeitung Cumhuriyet wurden bislang landesweit 38 Haftbefehle gegen Aktivisten der Nein-Kampagne ausgestellt, alle nach Schließung der Wahllokale.
Am Donnerstagvormittag veranstaltete die Polizei eine Razzia bei der Redaktion der oppositionellen Website sendika.org und verhaftete deren Chefredakteur Ali Ergin Demirhan. Es sieht so aus, als könne die Regierung alle Proteste gegen die Einführung des Präsidialsystems „alla Turka“ abblocken.
Nach vorläufigen Wahlergebnissen stimmten am Sonntag 51,4 Prozent der Türken für ein Präsidialsystem, das Erdoğan mehr Macht verleihen würde.
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