: Eine schwierige Geschichte
Frankreich Front-National-Chefin Marine Le Pen bestreitet die staatliche Mitverantwortung Frankreichs für die Deportation und Ermordung französischer Juden
Aus Paris Rudolf Balmer
Wenn es um die hässlichsten Kapitel der französischen Geschichte geht, glaubt Marine Le Pen im Zweifelsfall eher ihrem Vater, dem wegen antisemitischer Äußerungen aus dem Front National ausgeschlossenen Jean-Marie Le Pen, als den Historikern. Für sie hat darum Frankreich keinerlei Mitverantwortung für die Verhaftungen und Misshandlungen im Rahmen der Judenverfolgung im von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich.
Die FN-Präsidentschaftskandidatin war am Sonntag Gast der politischen Rundfunksendung „Grand Jury“ bei RTL. Dabei wurde sie auf die berüchtigte Razzia vom 16. Juli 1942 angesprochen, bei der in Paris rund 13.000 französische Juden, unter ihnen 4.000 Kinder, auf Anordnung der französischen Regierungsbehörden von 450 französischen Polizeibeamten festgenommen wurden.
Sie sieht keinen Grund zu irgendeiner Reue oder nötigen Aufarbeitung der Geschichte. Im Gegenteil meint sie dazu, man habe die Leute bezüglich der Rolle des französischen Staates beim Holocaust beschwindelt: „Frankreich ist jahrelang geistig geplagt worden.“ Und dies besonders in den Schulen: „In Wirklichkeit hat man so den Schulkindern beigebracht, ihr Land zu kritisieren und [in der Geschichte Frankreichs] vielleicht nur die finstersten historischen Aspekte zu sehen.“
Das meint sie namentlich zur antijüdischen Razzia vom 16. Juli 1942: Sie erkennt dazu allenfalls eine individuelle Verantwortung „derjenigen, die in jener Epoche an der Macht waren, nicht aber eine Verantwortung Frankreichs“. Das stellt einen Rückschritt um mehr als zwanzig Jahre dar. Denn gestützt auf die Geschichtsschreibung und die Schilderungen von Augenzeugen und Mitbeteiligten hatte 1995 der neu gewählte Präsident Jacques Chirac die noch für viele unangenehme Wahrheit über die Ereignisse und die Rolle des französischen Staats gesagt: „Ja, der kriminelle Wahn der Besetzer wurde von Franzosen und vom französischen Staat unterstützt. […] 450 französische Polizisten und Gendarmen haben auf Befehl ihrer Vorgesetzten die Wünsche der Nazis erfüllt.“
Das Besondere an dieser ersten groß angelegten Aktion war, dass sie ausschließlich von den französischen Staatsbehörden geplant, organisiert und durchgeführt wurde. In einer ersten Zeit wurden diese Familien in das damals unter dem Namen „Vel d’Hiv“ bekannte Pariser Radrennstadion gebracht. Von dort wurden sie in Zwischenlager und anschließend in Konzentrationslager deportiert. Nur etwa hundert Opfer dieser Razzia haben überlebt.
Marine Le Pen
Chirac beendete seinerzeit die opportunistische Konstruktion der französischen Nachkriegszeit, wonach das eigentliche Frankreich während der Besetzung im Exil in London weiterexistiert und das Kollaborationsregime in Vichy keine eigene Autorität und Verantwortung gehabt habe. Nur „Revisionisten“ der extremen Rechte in Frankreich, welche die Tragweite oder gar die Realität der Rassenverfolgung durch die Nazis und ihre Helfer leugnen, stellen seit Chiracs Klarstellung noch diese Mitverantwortung Frankreichs infrage.
Wird Marine Le Pens schockierender Rückfall in die Geschichtsverfälschungen ihres Vaters Rückwirkungen auf das Wählerverhalten in zwei Wochen haben? Das zumindest hoffen ihre Konkurrenten, in deren Augen die FN-Chefin mit ihrer Geschichtsstunde ihr wahres Gesicht gezeigt hat.
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