„Ich bin da skeptisch“

Wohnen IV In Berlin herrscht eine „harte Wohnungsnot“, sagt Sigmar Gude. Der Soziologe über zu wenig Leerstand, zu volle Wohnungen und rot-rot-grüne Pläne

Sigmar Gude

Foto: David von Becker

Soziologe und Gründungsmitglied des Planungsbüros Toposs, ­leitet den Bereich Stadtforschung. Er arbeitet seit 25 Jah­ren zu Gentrifizierung in Berlin.

taz: Herr Gude, in der Berliner Innenstadt bezahlbaren Wohnraum zu finden ist inzwischen fast ein Ding der Unmöglichkeit. Aber was wird denn aus den „Weggentrifizierten“ – ziehen die alle in Großsiedlungen am Stadtrand?

Sigmar Gude: Man hat ja anfangs erwartet, dass die Ärmeren aus der Innenstadt dorthin verdrängt werden, wo es preiswert ist – also etwa an den Stadtrand. Im Zuge der Aufwertungsprozesse und ständig steigenden Mieten hat sich die Si­tua­tion aber im gesamten Stadtgebiet deutlich verschärft. Wir haben erstmals 2011 in unseren Untersuchungen ­festgestellt, dass es selbst in den Außenbezirken nicht mehr viel Leerstand gibt.

Aber in Gegenden wie Marzahn-Hellersdorf oder Teilen von Spandau sind die Mieten doch immer noch viel niedriger als in der Innenstadt.

Das ist richtig. Das liegt aber nicht daran, dass es dort noch freie Wohnungen gibt. Die Wohnungen dort gehören zu einem Großteil den Wohnungsbaugesellschaften, und die haben ein ganz anderes System zur Mietfestlegung. 2012 erzählte mir der Vertreter einer großen Wohnungsbaugesellschaft stolz, sie hätten in Treptow Wohnungen für 4,70 Euro pro Quadratmeter kalt. Aber als ich fragte, ob sie denn auch freie Wohnungen hätten, musste er verneinen. Der Anschein, „da draußen“ gäbe es etwas, weil die Miete billig ist, ist falsch.

Heißt das, dass die ganz Armen aus der Innenstadt schon in die Platten am Stadtrand gezogen sind?

Ein Teil der Wohnungen dort wurde sicher aufgefüllt von Menschen, die aus der Innenstadt weg- oder aber von außerhalb nach Berlin gezogen sind. Aber dieses Klischee, dass es am Stadtrand bald erste „Banlieues“ gibt, stimmt so nicht. Denn für die Ärmsten der Armen ist am Stadtrand kein Platz mehr. Das sieht man schon daran, dass auch in den Großsiedlungen, etwa in Spandau oder in Marzahn-Hellersdorf, der Anteil der Hartz-IV-Bezieher weitestgehend im städtischen Durchschnitt liegt.

Okay, der Stadtrand ist also dicht. Wohin ziehen die Leute denn dann?

Die Leute ziehen gar nicht um – weil sie nichts mehr finden. Wer es sich irgendwie leisten kann, bleibt in seiner Wohnung, selbst wenn er mit einer unangenehmen Mieterhöhung konfrontiert ist. Die größte Gruppe der Wohnungsuchenden sind die Leute, die neu in die Stadt kommen. Dadurch wird der Wohnungsmarkt noch enger, der Konkurrenzkampf in der gesamten Stadt noch größer. Wer wirklich umziehen muss und finanziell nicht mithalten kann, muss dann notgedrungen in schlechtere Bestände ausweichen.

Was heißt das konkret?

Die Leute bleiben in ihren Quartieren, ziehen aber zum Beispiel in Wohnungen an lauten, viel befahrenen Straßen. Oder in dunkle Erdgeschosswohnungen im Hinterhof. In solchen Lagen sind die Mieten zwar gar nicht besonders niedrig – für die gegebene Wohnqualität sind sie sogar relativ hoch. Aber der Andrang von Menschen mit höheren Einkommen ist hier nicht so groß. Und wir haben noch ein anderes Problem identifiziert: Überbelegung. Also eine Wohnsituation, in der es weniger Wohnräume als Haushaltsmitglieder gibt.

Man rückt also zusammen?

Ja. Jeder braucht eine Wohnung, und wenn es keine bezahlbare Wohnung gibt, die groß genug ist, muss es eben auch so gehen. Besonders Familien, die Hartz IV beziehen, sind davon betroffen. Uns liegen Zahlen vor, nach denen in Berlin etwa 30.000 Kinder in gravierend überbelegten Wohnungen leben. Das heißt mindestens zwei Zimmer weniger als Personen.

Die Leute würden also gerne umziehen, können aber nicht.

„Dieses Klischee, dass es am Stadtrand bald erste ‚Banlieues‘ gibt, stimmt so nicht“

Sigmar Gude, Soziologe

Richtig. Und da geht es nicht nur um freiwillige Umzüge. Im Jahr 2014 forderte das Amt 12.000 Hartz-IV-Haushalte auf, in eine günstigere Wohnung zu ziehen. Das haben nur 559 getan. 2015 sank die Zahl noch mal auf etwa 450. Es gibt einfach keine Alternativen, die mit dem Regelsatz zu bezahlen wären.

Wenn die Leute in ihren Quartieren bleiben, ist dann „Verdrängung“ überhaupt der richtige Begriff?

Ich spreche deswegen von „innerer Verdrängung“, also der Verdrängung innerhalb des Quartiers in schlechte Bestände. Das ist der Moment, wo meiner Meinung nach echte Wohnungsnot beginnt. Vorher konnte man über Wohnungsknappheit oder -stress sprechen. Als Leute noch von einem Quartier ins nächste gezogen sind, war das sicherlich belastend – aber noch keine harte Wohnungsnot.

Und was ist mit der Prognose, dass große Teile der Innenstadt bald „Hartz-IV-freie Zonen“ sein werden?

Unsere Untersuchungen haben etwa im als besonders hip geltenden Neuköllner Schillerkiez gezeigt, dass viele Leute dort immer noch weit unterdurchschnittliche Einkommen haben. Neuköllns Exbezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky hat sich seinerzeit mal ganz enttäuscht darüber geäußert, dass so wenig Gentrifier nach Neukölln kommen. Der dachte, das soziale Problem löst sich von allein und er bekommt einen schönen Mittelklassebezirk. Aber das wird so nicht sein, die Leute können ja nirgends hin.

Nun liegt der Leerstand in Berlin bei etwa 1,7 Prozent. Das ist nicht viel – ist aber bei den vielen Tausend Wohnungen in der Stadt doch auch nicht zu verachten.

Natürlich gibt es irgendwo auch mal freie Wohnungen. Aber ein funktionierender Wohnungsmarkt braucht eine „Fluktua­tions­reserve“ von etwa 3 Prozent Leerstand. Viele der leer stehenden Wohnungen werden modernisiert oder instand gesetzt und fallen damit vorübergehend aus. Von besonders viel „echtem“ Leerstand würde ich in Berlin nicht ausgehen.

Das Thema hat im Wahlkampf eine riesige Rolle gespielt, die neue rot-rot-grüne Regierung hat „Wohnen“ als Grundrecht im Koalitionsvertrag verankert. Wird jetzt alles besser?

Die Einflussmöglichkeiten einer Landesregierung sind leider sehr, sehr gering. Wenn der Wohnungsmarkt jetzt stillstünde und es nicht weiter einen so massiven Zuzug gäbe, dann könnte man hier und da nach Stellschrauben suchen, um die Versorgung zu verbessern. Das Hauptproblem ist ja, dass in der Vergangenheit preiswerter Bestand nicht ausreichend geschützt wurde. Noch dazu sind die Sozialwohnungen nach und nach verschwunden. Schon die alte Senatsverwaltung hat versucht, diese jetzt wieder stärker zu schützen, die neue will nun Wohnungen zukaufen. Ich bin da aber skeptisch. Beides kostet viel Geld, und die Konkurrenz durch Investoren ist groß.

Kaum noch Leerstand auf dem Wohnungsmarkt – in der Konsequenz entstehen drei zentrale Probleme: eine schnell steigende Mietbelastung, die Verdrängung in Lagen mit schlechter Wohnqualität und die Überbelegung von Wohnungen.

Wer die Mieterhöhung wirklich nicht mehr tragen kann, muss etwa in Wohnlagen an dicht befahrenen Straßen oder in dunkle Erdgeschosswohnungen im Hinterhaus ausweichen.

Das ist aber nicht unbedingt viel billiger – der Unterschied zwischen der Berliner Durchschnittsmiete und der, die Hartz-IV-Beziehende zahlen, ist in den letzten Jahren enorm geschrumpft. Bloß der Andrang auf solche Wohnungen ist nicht ganz so groß, die Konkurrenz dementsprechend geringer. (dir)

Wird die neue Landesregierung also darüber stolpern, die Erwartungen so hoch geschraubt zu haben?

Was die Gesamtentwicklung angeht, bin ich pessimistisch. Trotzdem war es richtig, Wohnen zum zentralen Wahlkampf­thema zu machen. Das Problem muss ganz oben auf die Agenda.

Gentrifizierungskritiker Andrej Holm hat der Stadt einen absoluten Wohnungsmangel von mindestens 125.000 Wohnungen attestiert.

Das kommt natürlich auf die Berechnung an. Wir haben schon vor Jahren eine Zahl von 200.000 genannt. Aber wie viele es genau sind, ist vollkommen unwichtig. Es fehlen Wohnungen in einer solchen Größenordnung, dass jede Anstrengung gerechtfertigt ist. Gleichzeitig ist klar, dass wir immer hinter dem zurückbleiben werden, was aktuell benötigt wird. Und das vor allem, weil vor 15 Jahren die Zeichen der Zeit vollkommen falsch gedeutet wurden.

Interview Dinah Riese

Das ausführliche Interview:
taz.de/zusammenrücken