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Ein Stück Stoff

Kopftuch Was wiegt mehr: die Freiheit des Glaubens oder die Unparteilichkeit des Staates? Aber wie neutral können dessen VertreterInnen sein? Überlegungen zum Neutralitätsgesetz

Von Alke Wierth

Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

Das steht in Artikel 29 der Berliner Landesverfassung. Ihn ergänzt das Berliner Neutralitätsgesetz, indem es die Bekenntnisfreiheit für Landesbedienstete einschränkt. Sie müssen sich „in den Bereichen, in denen die Bürgerin oder der Bürger in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen ist, in ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis zurückhalten“, da sich der Stadtstaat mit Artikel 29 „zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet“ habe.

Neutralität bedeutet Unparteilichkeit. Bezogen auf einen Staat, heißt das, dass dieser nicht Einzelne oder Gruppen aufgrund bestimmter Merkmale – wie ihrer Religion – privilegieren oder diskriminieren darf.

Aber wer ist der Staat? Rechts- und politikwissenschaftlich besteht er aus Institutionen und Gesetzen, die das Zusammenleben einer Gemeinschaft regeln. Letztere besteht aus BürgerInnen und allen anderen, die sich im Wirkungsbereich der staatlichen Ordnung befinden.

Jedoch tritt der Staat diesen Menschen nicht in Gestalt von Gesetzen und Behörden gegenüber, sondern selbst in Gestalt von Menschen: „Der Staat handelt nur durch Personen“, sagt der Rechtswissenschaftler Christian Pestalozza, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Freien Universität (FU): „Die Neutralität des Staates wird deshalb primär durch die Neutralität der ihn vertretenden Personen verwirklicht.“

Doch können Menschen überhaupt neutral sein?

Nein – und das brauchen sie auch nicht, auch nicht als Staatsbedienstete, sagt die Rechtsanwältin Sabine Berghahn, Expertin für Verfassungsrecht und Antidiskriminierung und Privatdozentin am Otto-Suhr-In­stitut für Politikwissenschaften der FU. Es sei dem Staat zwar verboten, sich mit einer Religion oder Weltanschauung zu identifizieren – und etwa das Aufhängen von Kruzifixen in Klassenzimmern anzuordnen. „Staatsbedienstete aber dürfen religiöse oder weltanschauliche Bindungen zu erkennen geben“, so Berghahn. „Sie dürfen sie nur nicht propagieren oder so darstellen, dass der Staat damit identifiziert wird.“

„Das Verständnis des Neutralitätsprinzips darf nicht von Leitkulturgedanken überwölbt werden“

Sabine Berghahn, Juristin

Der Staat verlange von seinen RepräsentantInnen ja auch nicht, Religions- oder auch etwaige Parteizugehörigkeiten aufzugeben, ergänzt Staatsrechtler Pestalozza. Er fordere aber die „Zurückhaltung“ solcher Bekenntnisse bei der Ausübung ihres Berufs – und daran knüpfe das Berliner Neutralitätsgesetz: „Es verbietet nicht, dass MuslimInnen LehrerInnen werden“, so Pestalozza: „Aber sie dürfen sich – folgt man dem Wortlaut des Gesetzes – ebenso wenig wie Anhänger anderer Religionen durch das Tragen eines religiösen Symbols als solche zu erkennen geben.“

Das Neutralitätsgesetz ziele damit auf „Äußeres“, so der Rechtswissenschaftler. Es beabsichtige gar nicht, Überzeugungen und Meinungen zu verbieten. „Aber Neutralität manifestiert sich nicht im Äußeren einer Person, sondern in ihrem Reden und Handeln“, ergänzt die Juristin Berghahn, der Staat müsse „in erster Linie darauf achten, wie seine Bediensteten sich verhalten.“ KeinE StaatsdienerIn dürfe Leute ihrer eigenen Partei oder Religion bevorzugen oder diese propagieren.

Pestalozza hält es für möglich, dem Neutralitätsgebot auf genau entgegengesetzte Weise zu entsprechen – indem alles Sichtbare zunächst zugelassen wird: „Neutralität durch Transparenz und Toleranz gegenüber Vielfalt.“ Die staatliche Neutralität würde dann dadurch gewahrt, dass alle religiösen Symbole zugelassen werden und erst im Konfliktfall eingegriffen werde. In diese Richtung geht auch das Urteil des Berliner Landesarbeitsgerichts vom 9. Februar, das, so Pestalozza, das Neutralitätsgesetz „nach dem Vorbild der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungskonform modifiziere“. Es stelle die Bekenntnisfreiheit der Klägerin über die „Zumutung“ des Staats, diese seiner Neutralitätspflicht unterzuordnen – es sei denn, das religiöse Symbol führe zu einer konkreten Störung des ­Schulfriedens.

Eine gerade angesichts der Vielfalt der heutigen Gesellschaft überfällige Auffassung des Neutralitätsbegriffs, sagt auch Berghahn. Denn in der Debatte über dieses Gesetz stecke auch viel „antimuslimischer Populismus“. Unzeitgemäß, so die Juristin: „Das Verständnis des Neutralitätsprinzips darf nicht von Leitkulturgedanken überwölbt werden.“

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