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Die Einsamkeit des Regierenden

PARLAMENT Michael Müller (SPD) bekommt bei seiner Wahl vier Stimmen weniger, als Rot-Rot-Grün hat – und wirkt darüber erleichtert statt verärgert

Weitgehend allein wandert Michael Müller am Donnerstagmorgen vor der Regierungsbank im Abgeordnetenhaus umher. Es hat etwas von Franz Beckenbauers einsamem Gang übers Spielfeld nach dem WM-Endspiel 1990 in Rom. Bloß hat Müller, anders als der damalige Nationaltrainer, seinen Sieg noch vor sich und wartet sichtlich angespannt, ob er als Regierungschef wiedergewählt wird. Erst als ein Parteifreund aus dem Auszählraum auf ihn zukommt und ihm etwas zuflüstert, entspannt sich Müllers Miene, huscht wieder ein Lächeln über sein blasses Gesicht: 88 von 158 Stimmen bekommt er, vier weniger, als die komplett anwesende rot-rot-grüne Koalition hat.

Einen Tag vor seinem 52. Geburtstag scheint Müller mit Schlechterem gerechnet zu haben – zu gelöst sind seine Züge, nichts ist da von Ärger über die fehlenden Stimmen zu sehen. Die jüngsten Streitigkeiten in der SPD, wo ihm der Landesvorstand in seine Personalauswahl reinredete, haben Spuren hinterlassen. Nicht ohne Grund teilten die Grünen schon am Dienstag unaufgefordert mit, bei einer Probeabstimmung in der Fraktion hätten sich alle ihre 27 Abgeordneten für Müller ausgesprochen. Klare Botschaft: Wir sind’s nicht, wenn Stimmen fehlen. Oppositionschef Florian Graf sieht einen „Fehlstart“ Müllers. Dabei war dessen inzwischen in der SPD glorifizierter Vorgänger Klaus Wowereit 2006 in einem ersten Wahlgang sogar durchgefallen, bevor er im zweiten Anlauf die nötige Mehrheit bekam.

Vor der Parlamentssitzung haben SPD, Linkspartei und Grüne ihren Koalitionsvertrag unterzeichnet. Im Festsaal des Parlaments vor seinen fünf auf einen zweistelligen Millionenbetrag geschätzten Gerhart-Richter-Bildern bekamen die Fraktions- und Parteichef dafür jeweils einen mausgrau-silbrigen Kuli mit der Aufschrift „Berlin R2G“. Die vormaligen grünen Chef-Verhandler Bettina Jarasch und Daniel Wesener konnten dabei nur zusehen – sie hatten den Vorsitz am Wochenende an Nina Stahr und Werner Graf abgegeben.

Der 187 Seiten starke Vertrag – eine erste Fassung hatte wegen größeren Zeilenabstands über 250 Seiten – zeigt auf seinem Deckel stilisierte Farbstriche in Rot und Grün. Wobei mit bloßem Auge nicht zwei rote Striche zu erkennen sind, sondern nur ein einzelner dicker. Der Kommentar vom später zum Kultursenator ernannten Linkspartei-Chef Klaus Lederer, als er sich das Cover nach der Unterzeichnung genauer anschaute: „Wir sind schon zusammengewachsen.“ Stefan Alberti

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