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Der zornige Mann am Bosporus

Diplomatie Deutschland liefert als „Terroristen“ diffamierte Personen nicht ohne Weiteres aus. In der Türkei wurde Steinmeier daher als „Terrorhelfer“ direkt angegriffen

ISTANBUL taz | „Deutschland ist ein sicherer Hafen für Terroristen aus der Türkei.“ Als der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu während der gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem deutschen Kollegen Frank-Walter Steinmeier kürzlich zu einer Tirade über die angebliche Unterstützung türkischer und kurdischer „Terroristen und Verräter“ ausholt, ist Steinmeier sichtlich geschockt.

Einen Gast von Angesicht zu Angesicht als „Terrorhelfer“ zu brandmarken, überschreitet die diplomatischen Gepflogenheiten unter angeblichen Verbündeten bei Weitem. Doch die protestierenden Bemerkungen Steinmeiers, dass in Deutschland erst einmal jemand verurteilt sein müsse, bevor er als Terrorist abgestempelt werden dürfe, nutzten nichts.

Im Auftrag seines Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan trug Çavuşoğlu eine lange Liste von Beschwerden vor. Die kurdische PKK-Guerilla dürfe mit Erlaubnis deutscher Behörden demonstrieren und für Abdullah Öcalan werben. Während es verboten wurde, Erdoğan bei einer Unterstützerdemonstration per Video zuzuschalten, war eine Woche später ein PKK-Kommandant bei einer Kurden-Demo auf der Videoleinwand zugeschaltet. Die Bundesrepublik weigere sich, „PKK-Terroristen“ auszuliefern. Stattdessen lasse sie es zu, dass die PKK in Deutschland Schutzgeld für ihren Terrorkampf erpresse.

Eine ähnliche Beschwerdeliste legt die türkische Regierung in Berlin auch wegen der zweiten derzeit besonders im Visier befindlichen „Terrororganisation“ vor: der Bewegung des islamistischen Predigers Fethullah Gülen. Die in der Türkei „FETÖ“ genannte Organisation wird für den Putschversuch im vergangenen Juli verantwortlich gemacht. Glaubt man der türkischen Regierung, hat sie in Deutschland eine ihrer stärksten Basen im Ausland.

Tatsächlich haben sich wohl etliche Gülen-Leute nach Deutschland geflüchtet, darunter auch der berüchtigte ehemalige Staatsanwalt Zekeriya Öz. In den Jahren von 2007 bis 2011 war er Chefankläger von Militärs, Geschäftsleuten, Journalisten und Intellektuellen, die alle als ausgewiesene Kemalisten bekannt waren und denen Öz vorwarf, einen Putsch gegen Erdoğan geplant zu haben.

Zekeriya Öz avancierte zum Star der AKP und zum Liebling Erdoğans. Doch dann drehte sich der Wind. Die Beziehung zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung entwickelte sich immer mehr von der einstigen Partnerschaft zu scharfer Rivalität. Dann war Öz der leitende Staatsanwalt bei den Korruptionsermittlungen gegen Erdoğan-nahe Baulöwen, die bis zu dessen Sohn Bilal führten. Seitdem gilt Öz als Terrorist, er flüchtete nach Deutschland, und die Türkei fordert nun seine Auslieferung.

Doch Öz ist kein Einzelfall. Rund 4.000 „Terroristen“ soll Deutschland an die Türkei ausliefern, forderte Çavuşoğlu von Steinmeier. Dazu gehören Di­plomaten und Nato-Militärs, die, statt in die Türkei zurückzukehren, es vorgezogen haben, in Deutschland Asyl zu beantragen; nur ein kleiner Teil des Eisbergs, den die Türkei in Deutschland sieht. Und dann kündigte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, noch an, jeder Journalist aus der Türkei könne in Deutschland Asyl beantragen.

Die Wut in Ankara wächst und damit die Wahrscheinlichkeit, dass Erdoğan den von Merkel so dringlich benötigten Flüchtlingspakt tatsächlich kündigt. Jürgen Gottschlich

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