: Da legte sich Van der Bellen einen Trachtenjanker zu
WAHLKAMPF Vor der Wahl ließ der grünliberale Kandidat keine Kirmes aus. Sein rechter Rivale Hofer füttert die Echokammern der sozialen Medien
Die Internetgruppe #aufstehn (www.aufstehn.at/wahl) will in letzter Minute noch die Mobilisierung verstärken: „Bestimmt kennst du ein paar Leute, von denen du nicht sicher weißt, ob sie am Sonntag wählen gehen.“ Zahllose kleine Initiativen, die unter dem Radar der großen Medien arbeiten, haben sich zusammengefunden, um in ihren Kreisen für den ehemaligen Wirtschaftsprofessor Stimmung zu machen.
In der U-Bahn singen
So sorgen die Latinos für Van der Bellen dafür, dass jene Landsleute, die wahlberechtigt sind, tatsächlich abstimmen gehen. In Wiener U-Bahn-Stationen singen Studenten spontan für ihren Kandidaten. Der Bauindustrielle Hans Peter Haselsteiner hat eine krude Kampagne finanziert, mit der eindringlich vor einem auf Hofers Wahl folgenden EU-Austritt Österreichs gewarnt wird.
Die größte Verbreitung hat aber der Aufruf einer bislang unbekannten „Frau Gertrude“ aus Wien-Donaustadt gefunden. Ein Video, auf dem sie als 89-jährige Holocaust-Überlebende vor einem Bürgerkrieg warnt, wie sie ihn 1934 als Kind in Wien erlebt habe, tauchte kürzlich auf der Facebook-Seite von Alexander Van der Bellen auf. Seither wurde der Beitrag über drei Millionen mal angeklickt – mehr als jede andere Wahlkampfbotschaft.
Der ehemalige Grünen-Chef hat alles, was im Kulturleben Rang und Namen hat, hinter sich versammelt: von Christoph Waltz bis Reinhold Messner und von Tobias Moretti bis Christine Nöstlinger. Hofer kann dagegen gerade einmal den völkischen Maler Odin Wiesinger und den Extremsportler Felix Baumgartner als prominente Unterstützer aufzählen.
Herbert Kickl, der Hofers Wahlkampf leitet, setzt vor allem auf die sozialen Medien, wo FPÖ-Fans mit Verschwörungstheorien, Verleumdungen des politischen Gegners und alarmistischen Falschmeldungen gefüttert werden. In diesen Echokammern gedeiht die Paranoia.
Wäre Österreich wie Frankreich, dann wäre eine Unterstützung aller demokratischen Kräfte gegen den Rechtsaußenkandidaten eine ausgemachte Sache. Der knappe Vorsprung Van der Bellens von kaum 0,6 Prozentpunkten bei der aufgehobenen Stichwahl vom 22. Mai bewies, dass viele in diesem Land Hofer nicht als Extremisten sehen wollen. Während führende Sozialdemokraten sich für Van der Bellen deklariert haben, vollführt die konservative ÖVP einen Eiertanz unter Berufung auf das Wahlgeheimnis. Man will sich den möglichen nächsten Koalitionspartner warmhalten.
Während Van der Bellen bei den besser Gebildeten, den Jüngeren und den Frauen gut abschnitt, hatte Hofer bei Männern mit geringer formaler Bildung die Nase vorn. Van der Bellen siegte in allen Landeshauptstädten, Hofer in der Provinz. Dort, wo vorwiegend ÖVP-Bürgermeister regieren, hat der Fast-schon-Präsident in der letzten Phase seinen Wahlkampf konzentriert. Er legte sich einen Trachtenjanker zu und ließ keine Kirmes aus.
Ausgehend vom Tiroler Kaunertal, wo Van der Bellen aufgewachsen ist, wurde eine Gruppe von ÖVP-Bürgermeistern vor allem in Westösterreich aufgebaut, die für ein Votum für Van der Bellen wirken. Die FPÖ hat 1.700 Bürgermeister angeschrieben, aber keiner will sich für Hofer deklarieren. Auch der ORF-Nachrichtensendung Zeit im Bild ist es nicht gelungen, einen ÖVP-Ortschef zu finden, der für Hofer werben wollte.
Wie wird die Wahl ausgehen? Die einzige veröffentlichte Umfrage sah zuletzt Hofer 52:48 vorne. Doch die Schwankungsbreite lässt auch den umgekehrten Ausgang zu. Ralf Leonhard
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen