: Nicht über uns ohne uns!
Teilhabegesetz Warum Behinderten- und Sozialverbänden auch weiterhin Widerstände gegen die Regelung leisten werden
Ein allgemeines Beispiel für unsere gesellschaftliche Situation: In einem Zimmer leben Beinamputierte, die sich bisher nur auf dem Boden liegend vorwärts bewegen können. Der Staat bietet Hilfen an: Prothesen und Rollstühle. Die Reaktionen der Beinamputierten darauf sind unterschiedlich: Einige nehmen Hilfe an und entscheiden sich für einen Rollstuhl, andere für Prothesen. Wiederum andere wollen lieber unter sich bleiben oder lehnen die Hilfe ab, weil sie individuell falsch oder nicht passend ist.
Das Beispiel lässt sich ohne Weiteres übertragen auf viele verschiedene Menschen, kulturelle und soziale Bereiche. Es zeigt den Umfang und die Schwierigkeit der Herausforderungen, die maximal mögliche Vielfalt in unserer Gesellschaft und unsere Menschenwürde zu schützen. Die gute Nachricht ist jedoch: Es gibt zwei Lösungsmöglichkeiten – Bildung und Gesetzgebung.
Gemeinsames Lernen ist eine wichtige bildungs- und gesellschaftspolitische Grundlage dafür, dass etwa zukünftige PersonalchefInnen ausreichende Sozialkompetenzen erwerben, um eine möglichst große Inklusionsquote für möglichst viele verschiedene Menschen im ersten Arbeitsmarkt zu erreichen.
Das Problem: Das parallele Bildungssystem verhindert das. In Bremen gibt es zwar die Oberschulen mit Inklusion, andererseits existieren weiterhin die Gymnasien, die inklusive Prozesse nicht im gleichen Umfang umsetzen. So bleibt soziale Spaltung bestehen. Solange zukünftige PersonalchefInnen und PolitikerInnen primär Gymnasien besuchen, fehlt es in den Unternehmen und in der Gesetzgebung an ausreichender Sozialkompetenz für das Ziel der optimalen Teilhabe.
Die Lösung: Entweder setzen ab sofort die Gymnasien im gleichen Umfang die erforderlichen Inklusionsprozesse um, wie es Oberschulen in Bremen bereits tun, oder das bisherige Bildungssystem muss korrigiert werden. Es gibt EU-Länder, wo SchülerInnen acht bis neun Jahre gemeinsam lernen. Diese Systeme setzen primär auf anschließende, verschiedene Weiterbildungsmöglichkeiten. Eine davon ist das Abitur. Die Jahre davor ermöglichen individuelle Förderung für mehr Schüler insgesamt.
Die Gesetzgebung konnte einerseits noch immer keine optimalen Rahmenbedingungen für das maximal mögliche Teilhabe- und Selbstbestimmungsrecht für möglichst viele verschiedene Menschen erreichen. Andererseits werden nach wie vor Menschen, die anders sind, erheblich diskriminiert – ob direkt oder indirekt, ob wissentlich oder unwissentlich. Die großen Konflikte wie um das Bundesteilhabegesetz (BTG) werden so noch lange bestehen bleiben.
Es gibt zwar mehrere PolitikerInnen, die für die Menschen mit Behinderung und Menschen, die anders sind, sprechen wollen, sie können es jedoch nicht wirklich, denn sie sind nicht selbst betroffen.
Die optimale Gesetzgebung für etwa Menschen mit Behinderung kann nur erreicht werden, wenn ausreichende SelbstvertreterInnen von verschiedenen Gruppierungen in die Gesetzgebung kommen und tatsächlich für sich selbst sprechen können. Deswegen auch der weltweite Slogan: „Nicht über uns ohne uns.“ Aus demselben Grund haben und brauchen wir eine bestimmte Mindestanzahl von Frauen in der Politik, damit sie auch für sich selbst sprechen können. Nur so können sie mehr Rechte bekommen und diese auch verteidigen.
Den Parteien in unseren Parlamenten ist es nicht ausreichend gelungen, über die internen Parteistrukturen die notwendigen SelbstvertreterInnen durchzusetzen. Deshalb muss es auch für die Menschen mit Behinderung eine bestimmte Quote geben – natürlich möglichst berücksichtigt auf die verschiedenen Behinderungen. Nur mit SelbstvertreterInnen kann das BTG ein Gesetz werden, das alle Behinderten- und Sozialverbände mittragen. Patrick Hennings
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