: Mit Steinitz in den Untergang
SCHACH Nach sieben Remis hintereinander und einem bis dato nur durchschnittlichen Weltmeisterschaftsduell in New York geht Herausforderer Sergei Karjakin in Führung
von Hartmut Metz
Magnus Carlsen schaut missmutig drein. Der weit in sein Lager vorgestoßene schwarze Bauer schlägt dem Weltmeister aufs Gemüt. Auf dem Feld a2 benötigt der Bauer nur noch einen Schritt, um sich zur Dame umzuwandeln. Das kann Carlsen nicht zulassen. Doch wenn er den frechen Bauern schlägt, wird sein König auf dem anderen Flügel mattgesetzt. Sergei Karjakin hat ihn am Haken.
Sein Rivale bei der Schach-WM in New York kann das Dilemma nicht mehr auflösen und streckt dem Herausforderer nach 52 Zügen zum Zeichen der Aufgabe die Hand entgegen. Ein bitterer Verlust nach sieben Remis. Carlsen übertrieb in der letzten Partie erst seine Gewinnbemühungen wie ein überambitionierter Kaffeehauszocker mit zwei Bauernopfern – und am Schluss wurde er auch seinem legendären Ruf nicht gerecht, die Endspielphase wie eine Maschine nahezu perfekt zu beherrschen.
Weiß: Magnus Carlsen (Norwegen) Schwarz: Sergei Karjakin (Russland)– Damenindisch
1.d4 Sf6 2.Sf3 d5 3.e3 e6 4.Ld3 c5 5.b3 Le7 6.0-0 0-0 7.Lb2 b6 8.dxc5 Lxc5 9.Sbd2 Lb7 10.De2 Sbd7 11.c4 dxc4 12.Sxc4 De7 13.a3 a5 14.Sd4 Tfd8 15.Tfd1 Tac8 16.Tac1 Sf8 17.De1 Sg6 18.Lf1 Sg4 19.Sb5 Lc6 20.a4 Ld5 21.Ld4 Lxc4 22.Txc4 Lxd4 23.Tdxd4 Txc4 24.bxc4 Sf6 25.Dd2 Tb8 26.g3 Se5 27.Lg2 h6 28.f4 Sed7 29.Sa7 Da3 30.Sc6 Tf8 31.h3 Sc5 32.Kh2 Sxa4 33.Td8 g6 34.Dd4 Kg7 35.c5 Txd8 36.Sxd8 Sxc5 37.Dd6 Dd3 38.Sxe6+ fxe6 39.De7+ Kg8 40.Dxf6 a4 41.e4 Dd7 42.Dxg6+ Dg7 43.De8+ Df8 44.Dc6 Dd8 45.f5 a3 46.fxe6 Kg7 47.e7 Dxe7 48.Dxb6 Sd3 49.Da5 Dc5 50.Da6 Se5 51.De6 h5 52.h4 a2 0-1
Stand: Karjakin – Carlsen 4,5:3,5
Im verbleibenden Drittel der maximal zwölf Partien muss der 25-Jährige nun angesichts des Punktestandes von 3,5:4,5 mehr zeigen, will er an seinem Geburtstag am 30. November wenigstens durch ein 6:6 den Schnellschach-Tiebreak erreichen. „Es kann immer noch alles passieren“, versuchte Karjakin anschließend zu beschwichtigen. Doch die Freude stand ihm nach dem (insgesamt) zweiten Sieg über Carlsen ins Gesicht geschrieben. Der Jubel kannte nach der Aufgabe des haushoch favorisierten Weltranglistenersten keine Grenzen. Karjakin kam deshalb sogar zu spät zur Pressekonferenz.
Carlsen saß erst mutterseelenallein auf dem Podium und hing seinen negativen Gedanken nach. Wo unterliefen ihm Patzer? Sechs Stunden zuvor war der Weltmeister noch gut gelaunt ans Brett gegangen. Mit der gewählten Eröffnung bewies er wieder Kenntnis der Historie – Wilhelm Steinitz kam als Namensgeber der gewählten Eröffnung zu Ehren. Steinitz hatte 1886 auf einer US-Tournee, unter anderem in New York, Johannes Zukertort bezwungen und rief sich hernach zum ersten Schach-Weltmeister aus. Doch Carlsen dachte jetzt auf dem Podium nur an die Phase ab Zug 30, als ihm die Zeit davonlief. Bei jeweils weniger als fünf Minuten verleugnete der Norweger sein wahres Naturell, wollte zaubern und im Mattangriff siegen, doch sein Kontrahent erwies sich erneut als zäher Brocken. Karjakin verspeiste die als Danaergeschenke gedachten Bauern und vertraute auf seine Verteidigungsfähigkeiten.
Dem Russen von der Krim unterliefen nur kleine Fehler, während Weiß stets nur einen Zug auf dem schmalen Grat zum Remis finden musste. Carlsen scheiterte: Der weiter und weiter vorrückende a-Bauer machte ihm Angst. Die Dame allein konnte ihn nicht aufhalten. Mit einem letzten schwachen Zug öffnete der Weltmeister auch noch kläglich seine Königs-Flanke. Karjakin zögerte nur kurz, dann schlug er zu. Der Weltmeister erkannte die aussichtslose Lage und gab auf.
Sichtlich genervt starrte Carlsen allein auf dem Podium eine Weile in die Ferne, dann verlor der sonst so geduldige Champion die Contenance, wollte nicht länger auf den Herausforderer warten und haute ab. „Es kann noch immer alles passieren“, wiederholte Karjakin danach gebetsmühlenartig. Doch die Wahrheit ist: Inzwischen spricht einiges für den jüngsten Großmeister aller Zeiten, der mit zwölf Jahren und sieben Monaten den schwarzen Gürtel des Denksports eroberte. Carlsen überzeugte bisher nicht, regelmäßig vergab er gute Stellungen gegen den zäh verteidigenden gebürtigen Ukrainer. Beruhigte sich der Titelverteidiger bisher mit Aussagen, es sei noch nichts passiert, steht er nun unter Druck im Kampf um eine Million Euro Preisgeld. Er muss nun gewinnen. Den Fans ist es recht. Die Zeit der langweiligen Remis ist vorbei.
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