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Es war einmal in Westberlin

Fotografie Buntes Nebeneinander in Schwarzweiß – in seinem Fotobuch „Die wilden Achtziger“ lässt Christian Schulz die versunkene Halbstadt leuchten

von Esther Slevogt

Zum Beispiel diese Aussichtsplattformen. Sie standen überall entlang der Mauer. Man konnte hochklettern und rübergucken, nach Osten. Was man natürlich nicht tat. Höchstens, wenn Besuch aus Westdeutschland kam, wie die alte Bonner Bundesrepublik damals mit gewisser Herablassung genannt wurde.

Denn hier war Westberlin. Man lebte – wie Asterix und Obelix in ihrem gallischen Dorf von römischen Armeen umzingelt – auf einer Insel der Seligen im Auge des Orkans. Hier wohnten junge Punks und alte Nazis, Spießer und Revoluzzer, türkische Migranten und westdeutsche Bundeswehrflüchtlinge sowie eine wilde Mischung diversester Subkulturen wie eine zerstrittene Großfamilie unter einem Dach. Wenn’s drauf ankam, hielt man zusammen: gegen die Polizei oder zu viel Einbruch von Wirklichkeit und Außenwelt, vor der man sich hier einigermaßen in Sicherheit wusste.

Ein Bild in Christian Schulz’ Fotobuch „Die wilden Achtziger“ über das letzte Lebensjahrzehnt dieser Insel im Meer des Kalten Krieges bringt es ganz gut auf den Punkt: Alte Männer nehmen vor einem Tabakladen an einer zugigen Straßenecke drohende Haltungen ein. Ihr Zorn richtet sich gegen vorbeiziehende Demonstranten. Doch das erfährt man nur aus der Bildunterschrift. Die Bedrohung, vor der diese Männer sich aufbauen (und einer bereits gestürzt ist), könnte auch allgemeiner sein, zum Beispiel der Einbruch einer neuen Zeit, die dann 1989 ja tatsächlich auch gekommen ist.

Vielleicht spüren diese Männer das damals schon. Das Straßenschild verrät: Die Szene spielt auf der Kufsteiner Straße. In der Nähe befindet sich das Gebäude des Radiosenders RIAS, ausgeschrieben: Radio im amerikanischen Sektor, zunächst Propagandasender, bevor er sich zivilisierte. Das Rathaus Schöneberg, Sitz der Westberliner Regierung, liegt ebenfalls nicht weit entfernt. Im Hintergrund ist auf dem Foto der Slogan einer Zigarettenwerbung zu lesen: „Let’s go West“. Denn Westberlin war eben nicht der Westen. Doch der Osten war hier auch nicht. Es war eine Welt dazwischen, zwischen den Blöcken und Ideologien: ein Freilichtmuseum der Subkulturen und gesellschaftliches Zukunftslabor, das 1989 lautlos untergegangen ist. Als Geld und Geschichte zurückkehrten.

Auf den Schwarzweißbildern dieses bemerkenswerten Buches tauchen auch die vielen Brachen auf, die das Stadtbild prägten: Trümmergrundstücke, die nach 1945 nie mehr bebaut worden waren, weil sich das Kapital aus der Stadt zurückgezogen hatte, die jahrzehntelang nur am Subventionstropf wirtschaftlich überleben konnte. Andere Bilder zeigen marode Gründerzeitbauten mit Einschusslöchern im bröckelnden Putz, die den Weltflüchtigen, die sich nach Westberlin abgesetzt hatten, billigen Wohnraum boten. Der Abriss ganzer Straßenzüge entfachte Anfang der Achtziger Jahre einen längst legendären Häuserkampf, von dem auch Fotos in Schulz’ Fotobuch erzählen.

Und immer wieder Mauerbilder, die eigentlich Bilder vom alten Berliner Stadtzentrum sind, das von diesem Bau 1961 zerrissen worden war. Seitdem war hier Peripherie, mit Straßen, die nicht mehr weiterführten; Bürgersteigen, denen die dazugehörigen Fahrbahnen abhandengekommen waren, weil darüber nun die Mauer verlief; Häuserfronten, die wie Kulissen direkt an der Mauer standen. Die SED-Ideologen hatten sie den „antifaschistischen Schutzwall“ genannt. Tatsächlich schützte diese Mauer das Biotop Westberlin, von dessen Vielfalt der Band mit seinen ebenso empathischen wie distanziert betrachtenden Porträts und Panoramen einen sehr präzisen Eindruck vermittelt.

Es ist ein buntes Nebeneinander der Lebensentwürfe. Da feiern die berühmten kleinen Leute ihre Feste, egal ob ihre Vorfahren im Wedding oder in Anatolien geboren wurden. Straßenfeste sind oft von Demonstrationen kaum zu unterscheiden. Auf einem Bild thront ein türkischer Familienvater auf einem mitgebrachten Sessel im Görlitzer Park und schaut einem Ringkampf zu. Das nächste Bild zeigt einen engelsgesichtigen Jungen mit langen blonden Haaren auf einem Stuhl mitten auf der Straße, der kurz davor ist, den ersten Punkhaarschnitt seines Lebens verpasst zu bekommen.

Man fährt U-Bahn, Linie 1 natürlich, die damals zwischen dem Kreuzberger Schlesischen Tor und dem KaDeWe am Wittenbergplatz hin- und herfuhr. Der Kurfürstendamm, dieses berühmte Schaufenster des Westens: wie grau und unwirtlich sieht das einstige Konsumparadiessynonym auf Schulz’ Fotografien aus.

Der Band lebt von den Porträts der großen und kleinen, berühmten und weniger berühmten Leute, vom jungen Johnny Depp oder Punkerin Dagmar, von Rio Reiser, Harald Juhnke, Annette Humpe und wie sie alle hießen, die damals Stadt und Zeitgeist prägten. Durch Schulz’ zart beobachtendes Kameraobjektiv wirken sie ebenso entrückt wie auf menschliches Maß gebracht: Polizisten und Demonstranten, Molotowcocktailwerfer und Biertrinker, Transen und Transitreisende, Wilde und Gezähmte, die Westberliner und ihre Besucher eben. Doch vielleicht ist es auch der utopische Glanz dieser versunkenen Halbstadt, der sie so leuchten lässt.

Christian Schulz: „Die wilden Achtziger. Fotografien aus Westberlin“. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2016, 160 Seiten, 24,50 €

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