: Erfahrener Neuling
BERLIN Er will 2017 in den Bundestag. Nach einer langen Karriere in Brüssel gilt Martin Schulz nun als Favorit für das Außenministerium. Aber kann der bundespolitische Anfänger auch SPD-Kanzlerkandidat werden?
aus Brüssel und Berlin Eric Bonse und Tobias Schulze
Eine Antwort auf die K-Frage gibt er am Donnerstag nicht. Martin Schulz gibt an diesem grauen Novembermorgen im VIP-Bereich des Europaparlaments überhaupt keine Antworten, denn es sind keine Fragen zugelassen. Der SPD-Politiker gibt keine Pressekonferenz, sondern nur ein Statement ab, auf Deutsch, Englisch und Französisch.
Offenbar war die Erklärung kurzfristig vorbereitet worden. Noch 24 Stunden zuvor hatte Schulz’ Pressesprecher in Straßburg betont, sein Chef werde in Brüssel bleiben. Doch dann sickerte in Düsseldorf durch, dass ihn die Genossen auf Platz eins der nordrhein-westfälischen Landesliste für die Bundestagswahl setzen werden.
Jetzt hat er keine Wahl mehr, er muss sich erklären. Um 9.42 Uhr ist es schließlich so weit. Dunkelblauer Anzug, Krawatte in Europablau. Schulz wirkt entspannt, mit sich im Reinen. „Es hat Spekulationen gegeben“, setzt er an. Deshalb müsse er sich äußern. „Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen“, betont Schulz.
Das glaubt man ihm aufs Wort. Noch kein Europaabgeordneter war so mit Haut und Haaren in das Amt des Parlamentspräsidenten geschlüpft wie Schulz. Zuletzt hatte er sich überall in die Bresche geworfen, sogar im Streit über das Ceta-Abkommen zwischen der Wallonie und Kanada griff er als Vermittler ein.
In Zukunft aber, so sagt er jetzt, werde er auf nationaler Ebene für Europa kämpfen.
Und in welcher Funktion?
Bekannt ist bislang nur Schulz’geplante Kandidatur auf der Liste der NRW-SPD. Eine Delegiertenkonferenz im März 2017 muss die Nominierung formell beschließen, die Landesspitze hat sich aber bereits auf den 60-Jährigen festgelegt. „Mit seiner starken Stimme für eine sozial gerechte Gesellschaft gehen wir mit großer Zuversicht in die Bundestagswahl“, sagte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft am Donnerstag. Achim Post, Chef der NRW-Landesgruppe in der Bundestagsfraktion, nannte Schulz einen „großen Parlamentspräsidenten“ und einen „Gewinn für Berlin“.
Die Landespartei kann ihren neuen Kandidaten im kommenden Jahr gut gebrauchen. Im September steht die Bundestagswahl an, schon im Mai die Landtagswahl. Die SPD befürchtet Verluste; vor fünf Jahren erhielt sie noch knapp 40 Prozent der Stimmen, zuletzt lag sie in Umfragen nur noch bei rund 30 Prozent. Eine derzeit beliebte Erklärung: Die Arbeiterpartei habe sich von den Arbeitern entfremdet, die Sozialdemokraten verstünden die Nöte ehemaliger Stammwählern nicht mehr, in Ruhrpottstädten könnten sie Anhänger an die AfD verlieren.
Falls all das eine Frage des Habitus ist, könnte die SPD mit Schulz punkten: kein Berufspolitiker mit Abschluss in Soziologie oder Verwaltungswissenschaft, sondern ein Schulabbrecher mit rheinischem Dialekt und Großvater aus der Kohlegrube. Als Arbeitsloser trat er 1974 in die SPD ein, später eröffnete er eine Buchhandlung, dann wurde er Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen bei Aachen. Schließlich arbeitete er sich über zwei Jahrzehnte im Europaparlament ganz nach oben. Und jetzt also: der Wechsel in die Bundespolitik.
Womöglich führt ihn den Weg direkt ins Auswärtige Amt. Wählt die Bundesversammlung wie geplant Frank-Walter Steinmeier ins Bellevue, braucht die große Koalition ab Februar einen neuen Außenminister.
Dass Steinmeiers Nachfolger aus der SPD kommt, ist zwar nicht garantiert. „Martin Schulz hat keinerlei Regierungserfahrung“, sagte der CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt der taz. „Mit Ursula von der Leyen, Thomas de Maizière, Gerd Müller und Norbert Röttgen gibt es hingegen in den Reihen der Union viele regierungserprobte und international anerkannte Außenpolitiker. Die SPD übernimmt große Verantwortung, wenn sie bei der Benennung des Außenministers auf Parteiproporz beharrt.“
Dass die SPD freiwillig auf das Außenministerium verzichtet, ist aber unwahrscheinlich – und einen profilierteren Anwärter als Schulz haben die Sozialdemokraten in Zeiten der europäischen Krise nicht zu bieten: überzeugter Kämpfer für die EU, vielsprachig, international bestens vernetzt.
Lediglich diplomatische Zurückhaltung hat Schulz im Gegensatz zum Amtsinhaber noch nicht drauf. Im September sagte er, es dränge ihn nicht besonders, den neuen britischen Außenminister Boris Johnson zu treffen. Der polnischen Regierung warf er im vergangenen Jahr einen „Staatsstreich“ vor. Und israelische Abgeordnete empörten sich einst, als er als Gastredner in der Knesset die schlechte Wasserversorgung der Palästinenser anprangerte und dabei mit ungeprüften Statistiken argumentierte.
Dennoch gilt Schulz in der SPD als Favorit auf den Posten. „Er steht für Erfahrung, Verlässlichkeit, Durchsetzungsvermögen und internationales Ansehen. Er wird die Bundespolitik bereichern“, sagt der SPD-Außenpolitiker Niels Annen. Offiziell verkünden will die Partei die Steinmeier-Nachfolge erst kurz vor der Wahl des Bundespräsidenten, voraussichtlich im Januar – womöglich gleichzeitig mit einer weiteren Personalentscheidung.
Auf einer Klausur Ende Januar will die Parteispitze klären, wen sie 2017 als Kanzlerkandidaten aufstellt. Unabhängig von Schulz’jüngster Äußerung gelte der Zeitplan weiterhin, sagte ein SPD-Sprecher am Donnerstag. Parteichef Sigmar Gabriel, der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz und Schulz selbst kommen für die Nominierung infrage.
Ob er auch diesen Job übernehmen möchte? In Brüssel schweigt der scheidende Parlamentspräsident am Morgen dazu. Sein Pressestatement ist nach zehn Minuten beendet. Die Karawane zieht weiter – zum EU-Ukraine-Gipfel, an dem Schulz selbstverständlich noch teilnimmt. Um Europa zu retten, wie immer.
Meinung + Diskussion SEITE 9
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