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Im Kinosaal ist es ganz still

Kino Sergei Loznitsa bekam für seinen Film „Austerlitz“, der Touristen in KZ-Gedenkstätten beobachtet, die Goldene Taube auf dem Filmfest DOK-Leipzig

von Detlef Kuhlbrodt

Das 59. Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm beginnt nicht nur im großen Kino, sondern zeitgleich und umsonst auch in der Osthalle des Hauptbahnhofs. Fast tausend Zuschauer sind gekommen. Es ist ein bisschen irritierend, DOK-Leipzig mit „My Life as a Courgette“ von Claude Barras, einem warmherzig-sympathischen Animationsfilm für die ganze Familie, zu eröffnen. Der kleine Held ist Waise, lebt in einem Kinderheim und verliebt sich; es gibt eine böse Tante und einen netten Onkel, die Farben sind fröhlich, die Animation ist bewundernswert. Beim Filmgespräch erfährt man, dass die Macher für vier bis fünf Sekunden Film einen Tag brauchten.

Viele Jahre bestand das Leipziger Festival eigentlich aus zwei Festivals – dem größten deutschen Dokumentarfilmfestival und einem Festival für Animationsfilm. Vor einem Jahr wurde beides zusammengelegt. Nun konkurrieren Äpfel und Birnen um die Hauptpreise. Die meisten Programme bestehen aus jeweils einem Animations- und einem Dokumentarfilm, was sehr gut funktioniert.

Schönes Geschenk

Die Aufführungen im Hauptbahnhof – jeden Abend wird ein Film hier umsonst gezeigt – sind ein schönes Geschenk. Das Programm ist so vielfältig wie immer: Es gibt sozusagen klassische monothematische Dokumentationen wie den schönen indischen Film „Cities of Sleep“ von Shaunak Sen, der Menschen in Delhi auf der Suche nach einem Schlafplatz begleitet; Filme, die ihr Thema auf ungewöhnliche Weise behandeln, wie den Kurzfilm „Voices of Finance“, in dem Selbstauskünfte von Managern aus der globalen Finanzwelt, die 2012/13 in einem Blog des Guardian veröffentlicht wurden, von virtuosen Tänzern in London performt werden.

Der großartige Film „The War Show“ von Andreas Dalsgaard und Obaidah Zytoon erzählt aus der Perspektive der DJane und Koregisseurin Obaidah Zytoon über Syrien zwischen 2011 und 2015. Anfangs sieht man sie in ihrer Radioshow in Damaskus verbotene Musik auflegen, mit ihren Freunden in Wohnungen kiffend und diskutierend her­umhängen. Sie demonstrieren, interviewen Leute, fahren herum. Was optimistisch beginnt, endet in einem Requiem für die ermordeten und gefolterten Freunde. Im Epilog sieht man Obaidah Zytoon, die geflüchtet ist, in den Bergen mit einem kleinen Blumentopf mit Marihuanakeimlingen: „We will plant the seeds of peace all around the planet. (…) It’s growing.“

Einzelne Filme reagieren auf aktuelle Ereignisse, wie „The Picture of the Day“. Da beschreibt die kanadische Filmemacherin Jo-Anne Velin den Alltag in Tröglitz, dem kleinen Ort in Sachsen-Anhalt, dessen Bürgermeister zurücktreten musste, weil er sich für Flüchtlinge eingesetzt hatte. Der Film ist gelungen; man merkt ihm aber an, dass er zu schnell fertig gestellt wurde.

Der Regisseur Vitaly Mansky, der seit 1993 häufig mit seinen Filmen in Leipzig zu Gast war, zeigt seinen neuen Film ­„Rodnye“ (Close Relations), eine Art Roadmovie durch die Ukrai­ne, der von Verwandtenbesuchen erzählt, in seiner Geburtsstadt Lwiw beginnt und später auf die Krim und in den Donbass führt. Auch in der Verwandtschaft spiegelt sich die Zerrissenheit des Landes. Der stille Held des Films ist ein Mathematiker, der rauchend am Ofen sitzt und nichts sagt. Der Regisseur lebt mittlerweile im lettischen Exil und sieht keine Möglichkeit, seinen Film in Russland zu zeigen.

Vor zwanzig Jahren wurde Sergei Loznitsas erster Dokumentarfilm – „Heute bauen wir ein Haus“ – mit der Goldenen Taube ausgezeichnet. Drei Silberne Tauben folgten Anfang der Nullerjahre. Anfangs waren seine Filme noch ironisch und heiter, mittlerweile sind sie tieftraurig.

Tieftraurig und hyperreal

Der stille Held des Films von Vitaly Mansky ist ein Mathematiker, der rauchend am Ofen sitzt und nichts sagt

Den Filmtitel „Austerlitz“ hat Loznitsa dem gleichnamigen Roman von W. G. Sebald entnommen. Der Film ist in verschiedenen KZ-Gedenkstätten aufgenommen. Die Kamera ist statisch, fast wie eine Überwachungskamera; die einzelnen Einstellungen endlos. Anfangs steht die Kamera im KZ; man sieht die Inschrift des Eingangstors „Arbeit macht frei“ spiegelverkehrt. Und davor die Besuchermassen, die die Kamera nicht zu bemerken scheinen.

Der Tag ist heiß. Die Besucher der Gedenkstätte tragen sommerliche Urlaubsklamotten. Die meisten haben nackte Beine. Beschriftete T-Shirts: „Jurassic-Parc“, „England“, der Kopf von Alice Cooper. Eine Reisegruppe trägt „Travel for Peace“-T-Shirts. Viele halten die telefonhörerartigen Audioguides an ihr Ohr. Das Schwarzweiß der Bilder wirkt irgendwie hyperreal, fast wie eine Röntgenaufnahme. Man sieht die Besucher Richtung Kamera fotografieren und fühlt sich unwohl, als ob sie in den Zuschauerraum hineinfotografierten. Manche nutzen auch Selfiesticks. Eine Weile hört man nur Stimmengewirr, später Fetzen in verschiedenen Sprachen; Passagen aus dem Audioguide, Erklärungen der Touristenführer.

Der Gegensatz zwischen KZ und wohlgenährten Urlaubern in Freizeitkleidung wirkt obszön. Weil sie so gut genährt sind. Wegen der Schrift auf ihren T-Shirts. Nur einmal, am Ende der Besichtigung des Konzentrationslagers, bemerkt ein Besucher, dass er gefilmt wird, und grinst direkt in die Kamera.

Der Film ist zu Ende. Im Kinosaal ist es ganz still. Die Zuschauer sind betroffen. Man hört jemanden schnarchen. Ein paar Leute lachen. „Austerlitz“ wurde mit der Goldenen Taube für den besten langen Dokumentar- und Animationsfilm ausgezeichnet.

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