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„Das ist krank“

bundesliga Leverkusen besiegt Darmstadt 98 ungefährdet 3:2. Und mit der Berufung von Bayer-Profi Benjamin Heinrichs in Joachim Löws DFB-Kader steht Trainer Roger Schmidt plötzlich als Talententwickler da

Aus Leverkusen Daniel Theweleit

Michael Schade brauchte nicht lange, um zu erkennen, wie sich dieser Moment zur Reparatur der jüngsten Schäden an seinem Werksklub nutzen lassen würde. Gerade hatte Bayer Leverkusen nach dem 2:1 in Wolfsburg und dem 1:0 in London bei Tottenham Hotspur auch Darmstadt 98 geschlagen, das Stadion feierte den 3:2-Sieg und den Neu-Nationalspieler Benjamin Heinrichs, woraufhin der Leverkusener Geschäftsführer in Anspielung auf die Nominierung des 19-Jährigen erklärte: „Das zeigt wieder, was für einen guten Trainer wir haben.“

Der Hinweis auf diesen persönlichen Erfolg des umstrittenen Trainers als Ausbilder von Talenten hilft natürlich, den beschädigten Ruf aufzupolieren. Zuvor waren unter Schmidt bereits Karim Bellarabi, Jonathan Tah, Julian Brandt und Bernd Leno in den Kader von Joachim Löw berufen worden. Die überraschendste Nominierung ist aber die von Henrichs. Am ­vergangenen Donnerstagabend klingelte das Telefon des Teenagers, der gerade bei Freunden zum Essen war. Als er hörte, wer am anderen Ende der Leitung spricht, hat er sich erst mal „an ein ruhiges Plätzchen“ zurückgezogen, erzählte er, „total schockiert“ sei er gewesen. Niemand hatte ihn auf diesen Moment vorbereitet, und kühn genug, heimlich von solch einer Einladung zu träumen, ist er offenbar nicht.

Das ist verständlich, denn vor einem Jahr ahnte Henrichs nicht einmal, welch ein Außenverteidigertalent in ihm schlummert. Seit der U8 spielte der Sohn eines Deutschen und einer Ghanaerin in den Jugendteams von Bayer Leverkusen, immer als offensiver Mittelfeldspieler. Im Januar kam Roger Schmidt dann plötzlich mit dem Plan, Henrichs außen in der Viererkette einzusetzen. Gefallen hat ihm diese Idee erst mal nicht, „wenn man immer darauf aus war, Tore zu machen, dann ist er am Anfang nicht so schön, so etwas hören“, berichtete er am Samstag. „Aber man versucht das dann umzusetzen, gibt alles auf der Position, und heute weiß ich: Ohne diese Umschulung hätte ich nicht diese Entwicklung gemacht“.

Außenverteidiger sind ja immer noch eine Art Sorgenposition im internationalen Spitzenfußball, und Henrichs kann sogar auf beiden Seiten ziemlich genau gleich gut spielen. Mitunter wechselt er sogar innerhalb einer Partie von rechts nach links oder umgekehrt. „Es ist kaum möglich, ihn auszuspielen“, sagt Schmidt, und trotzdem hat Henrichs regelmäßig auch offensive Momente. Sportdirektor Rudi Völler sprach von einer „unfassbaren Entwicklung“ des Eigengewächses, das in den ganz großen Spielen besonders glänzt.

So wie beim 2:0 gegen Borussia Dortmund Anfang Oktober. Oder in der vorigen Woche als er vor 85.000 Zuschauern gegen Tottenham im Londoner Wembley-Stadion brillierte. Diese Leistung hat Löw offenbar endgültig überzeugt, und Henrichs selbst kann es kaum fassen. „Im Januar wurde ich umgeschult, ich habe jetzt 18 Bundesligaspiele, viermal in der Champions League gespielt, jetzt darf ich zur A-Nationalmannschaft, das ist krank“, erklärte er im Anschluss an den Sieg gegen Darmstadt, nach dem auch seine Mannschaftskollegen selig lächelnd im Feierabend verschwanden. Der ganze Klub sei „innerhalb von einer Woche von der Hölle in den Himmel gekommen“, sagte Julian Baumgartlinger.

Beim Spiel in Wolfsburg eine Woche zuvor lag Bayer in der 78. Minuten 0:1 zurück, der gesperrte Roger Schmidt saß hilflos in einer Loge, manche Beobachter stellten sich bereits auf eine Trainerentlassung ein. Dann drehte Bayer die Partie, gewann in Tottenham und ist nach dem Erfolg gegen die Lilien auch der Bundesliga wieder gut positioniert. Plötzlich kann Schmidt sich während der Länderspielpause als Talententwickler feiern lassen. Weil er Henrichs zum Außenverteidiger gemacht hat und damit die Lösung für ein Problem von Jogi Löw gefunden haben könnte. Und weil aus keinem Klub mehr Spieler fürs DFB-Team nominiert wurden.

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