: DDR aus Liebe
Grenze Millionen Deutsche flüchteten zu Mauerzeiten aus der DDR in die BRD. Was aber kaum bekannt ist: Auch umgekehrt gab es Migration, wie eine Ausstellung nun zeigt
von Leonie Schlick
„Es war ein schmerzlicher Moment, den Pass abzugeben“, erzählt Gerlinde Breithaupt. Mit 28 Jahren wird sie freiwillig Bürgerin der DDR. Damit ist sie kein Einzelfall. Zwar flüchteten vier bis fünf Millionen Menschen während der Teilung Deutschlands aus der DDR in die Bundesrepublik. Was allerdings kaum bekannt ist: Auch umgekehrt gab es Migration. Menschen, die freiwillig in die DDR einwanderten; um die 500.000 sollen es bis 1989 gewesen sein.
Dieser Facette der deutsch-deutschen Migrationsgeschichte widmet sich die Sonderausstellung der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde. Bis April 2017 werden dort mehr als 20 Lebensgeschichten jener Menschen gezeigt, die freiwillig in die DDR gingen.
Die Dokumentation ihres Lebensalltags steht dabei genauso im Fokus wie die Suche nach den Gründen für den Staatenwechsel. Denn die Kernfrage laute doch: „Warum gehen Leute in die DDR?“, so die Leiterin der Erinnerungsstätte, Dr. Maria Nooke. Auf über 100 Quadratmetern versuchen die Ausstellungsmacher, sich dieser Frage mit Fotos, persönlichen Erinnerungsstücken und filmischen Zeitzeugeninterviews anzunähern.
Fest stehe: Die wenigsten emigrierten aus politischer Überzeugung, erklärt Kuratorin Eva Fuchslocher. Vielmehr seien für viele Menschen private Gründe ausschlaggebend gewesen, von der Flucht vor Strafverfolgung bis zur Rückkehr zu Familie und Freunden. Insbesondere in den 1950er Jahren seien viele auch aus wirtschaftlichen Interessen in die DDR emigriert, war dort doch das Recht auf Arbeit gesetzlich verankert. Ganz unabhängig vom Motiv – durchschnittlich seien 2.000 Menschen pro Jahr in die DDR aufgebrochen.
Die Sonderausstellung „Wechselseitig. Rück- und Zuwanderung in die DDR 1949 bis 1989“ wird vom 4. November bis zum 17. April 2017 in der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde gezeigt. Im November, März und April finden Kuratorenführungen statt.
Marienfelder Allee 66/80, 12279 Berlin
Weitere Infos: www.notaufnahmelager-berlin.de (leo)
Auch die Theologin Gerlinde Breithaupt, deren Biografie in der Ausstellung erzählt wird, kehrte der Bundesrepublik Deutschland 1981 den Rücken und zog zu ihrem Verlobten in die DDR. Freunde und die Geschwister seien erschrocken gewesen über diese Entscheidung. Doch für Gerlinde Breithaupt wog die Liebe schwerer als die Furcht vor der SED-Diktatur: „Es war keine politische Entscheidung, es war eine Glaubensentscheidung“, erklärte sie der taz beim Presserundgang.
Der für EinwanderInnen eigentlich zwingend vorgeschriebene Aufenthalt in einem der Aufnahmeheime blieb Breithaupt aber erspart – die evangelische Kirche hatte vermittelt. Doch trotz dieses positiven Starts spürte auch Breithaupt stets die Schattenseiten des Lebens als DDR-Bürgerin. Jahrelang wurden sie und ihr Ehemann von der Staatssicherheit ausspioniert. Dass beispielsweise ihr Telefon abgehört wurde, erfuhr sie bei einer späteren Einsicht in die Stasiakten. In Sachsen machte die angehende Pfarrerin ihr Vikariat in der evangelischen Kirche. Dank des familiären Umgangs dort habe sie sich an das Leben in der DDR gewöhnt, so Breithaupt. Aber: Als die Mauer fiel, sei sie schon sehr froh gewesen.
So wie Gerlinde Breithaupt, wanderten viele Bürger der Liebe wegen in die DDR aus, auch Frauke Naumann. Ihre Geschichte wird in der Ausstellung ebenfalls erzählt. 1986 musste die damals 22-Jährige sechs Wochen im zentralen Aufnahmeheim für Einwanderer in die DDR verbringen. In einem Kurzfilm berichtet sie eindringlich von den demütigenden Prozeduren, denen sie sich dort unterziehen musste. So wurde beispielsweise meist nur per Fingerzeig aufgerufen, Namen wurden nicht verwendet. Doch trotz dieser Erfahrungen lebt sich auch Frauke Naumann in der DDR ein – und entscheidet sich dafür, auch nach dem Mauerfall in ihrer neuen Heimat zu bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen