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Nach dem Zahltag wird gefeiert

Arbeiterkultur Sparklubs in Kneipen haben nicht nur auf St. Pauli eine lange Tradition. Seit Kurzem erleben sie eine unerwartete Renaissance. Der Dokumentarfilm „Manche hatten Krokodile“ porträtiert die Sparkultur

von Annika Lasarzik

Der Kasten ist kaum zu übersehen: Dunkelgrün und blechern prangt er an der Wand, rechts hinter der Theke in der „Holstenschwemme“. 60 Schlitze, mit Nummer und einem kleinen Namensschild versehen: Wie ein Hochhaus-Briefkasten im Miniaturformat wirkt der Klotz, nur werden hier keine Briefe eingesteckt – sondern Münzen und Geldscheine. „400 Euro haben wir für den neuen Kasten bezahlt, der alte ist zu klein geworden“, sagt Wirt Ernie. Der grüne Kasten wird hier auch „Sparkasse“ genannt, er ist Dreh- und Angelpunkt des „Sparklubs“ in der Holstenschwemme.

„Früher gab’s das hier in jeder Kneipe, in ganz Hamburg. Das war nix Besonderes“, sagt Ernie. Seit einiger Zeit steige die Nachfrage nach den Sparfächern wieder. „Heute kommen Junge und Alte zum Sparen vorbei, das geht durch alle sozialen Schichten.“

Die „Holstenschwemme“ ist nicht die einzige Kiezkneipe mit Sparklub: Wer in den kleinen Kaschemmen auf St. Pauli einkehrt, wird so manchen Blechkasten entdecken. Der „Otzentreff“ hat einen, das „St. Pauli Eck“ sowieso, in der „Hongkong-Bar“ hat das Sparen schon lange Tradition und in der „Kaffeeklappe“ hängt ein unscheinbarer grauer Kasten etwas versteckt im Hohlraum hinter der Eingangstür.

„Viele unserer Gäste haben nicht viel Geld zum Leben, ein kleines Einkommen oder eine geringe Rente. Da fällt das Sparen nicht gerade leicht. In der Kneipe wird man immer wieder dran erinnert, wenn man den Kasten sieht. Und ein paar Euro hin und wieder kann jeder zurücklegen“, sagt Ernie. Er selbst spart so lange in Kneipen, dass er gar nicht mehr weiß, wann er damit angefangen hat. „Einmal hab ich mir einen ganzen Campingurlaub mit dem Geld aus dem Sparfach bezahlt“, sagt er und grinst. Sich mal etwas gönnen, „ein bisschen Spaß haben“, das sei ihm wichtig.

Die Grundregeln sind schnell erklärt. Jeder zahlt wöchentlich einen bestimmten Betrag ein. Einmal pro Woche nehmen sich Kneipeninhaberin Rosie und Ernie die Kasse vor, leeren jedes Fach und notieren die Einnahmen akribisch. Das Geld bringt Rosi zur nächsten Haspa-Filiale auf der Reeperbahn.

Dabei muss alles stimmen, sagt Ernie: „Drei Leute verwalten hier die Kasse, sonst hat keiner Zugriff. Jeder zählt einmal durch, jeder schreibt auf. Damit wir sicher sind, dass keiner einen Fehler macht.“ Am Ende des Jahres bekommen die Kneipensparer ihr Erspartes zurück. Nach dem Zahltag wird ordentlich gefeiert, mit einem deftigen Weihnachtsessen an Heiligabend, erzählt Ernie: „Dann gibt’s Grünkohl für alle und danach noch ’ne Runde aufs Haus: Da ist die Bude voll.“

Lange Tradition

Die Tradition der Sparklubs reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Die ersten entstanden im norddeutschen Raum um 1870 herum – genau dokumentiert ist ihr Ursprung nicht, sagt Thorsten Wehber vom „Sparkassenhistorischen Dokumentationszentrum“. Wahrscheinlich sei die Idee aus den USA und Großbritannien von Seeleuten „importiert“ worden. Das Kollektivsparen sei dann vor allem in den Hafenstädten Hamburg und Bremen, im Ruhrgebiet und im Saarland zum Massenphänomen geworden. „Sparklubs sind eine Tradition der Arbeiterschicht“, sagt Wehber.

Am Prinzip hat sich seitdem kaum etwas verändert – nur dass damals ernsthafte soziale Hintergründe den Ausschlag gaben: Gerade in den Armenvierteln der Hafenstädte, in denen Seemänner und Prostituierte kaum eine soziale Absicherung hatten, galten die Sparbüchsen als notgedrungene Alternative zur Kranken- und Altenfürsorge. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzten immer mehr Sparklubs auf die Blechkästen. Oft wurde das Kneipensparen auch zum blanken Selbstschutz: Im Vergnügungsviertel St. Pauli war es etwa für Seeleute auf Landgang allzu verlockend, die Heuer gleich wieder für Schnaps und Huren auszugeben.

Die Basis jedes Sparklubs ist Vertrauen. Das weiß auch Ernie aus der „Holstenschwemme“. „Wir nehmen das sehr ernst, hier kommt nix weg“, sagt er. „In anderen Kneipen gab’s da schon oft Probleme, da hat der Wirt dann kurz vor Weihnachten das Konto leergeräumt und ist mit 40.000 Mark abgehauen.“ Ernie lacht, bis er vom Zigarettenrauch husten muss.

Ernie ist 73 Jahre alt, hat die Hochzeit der Sparklubs miterlebt. „So wirklich gespart hat man damals ja nich’, wer denkt in jungen Jahren schon dran, dass er mal alt wird.“ Lange arbeitete er als „Schutenschupser“ im Hafen, legte vom verdienten Geld immer einen Teil zurück. „War nich’immer leicht, war ja immer was los hier“, sagt er.

Die Sparkassen förderten den Trend ab den 1950er-Jahren, indem sie Kassen an die Clubs verliehen, Abrechnungsblöcke verteilten und Konten mit gutem Zinssatz anboten. Über 20.000 Sparklubs waren allein unter dem Dach des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes in den 1960ern registriert, davon 3.800 mit rund 180.000 Mitgliedern in Hamburg. Weiter reichen die Aufzeichnungen nicht.

Neue Popularität

Heute sind die Sparklubs selbst in den Arbeitervierteln eine Randerscheinung, wenngleich sie in St. Pauli gerade eine unerwartete Renaissance erleben. Die Haspa-Filiale auf der Reeperbahn verwaltet noch rund 200 Sparklub-Konten, die Filialleitung sieht einen positiven Trend: Seit einigen Jahren gründeten sich wieder neue Sparklubs, alte Clubs, deren Aktivitäten zuletzt eingeschlafen waren, würden wieder aktiver, heißt es.

Ein Platz im grünen Sparkasten der „Holstenschwemme“ ist besonders begehrt – laut Ernie wohl auch, weil es hier keine strengen Regeln gibt: Keine wöchentliche Sparpflicht, kein Strafgeld, wenn einer mal nicht zahlt, nicht einmal Mitgliedsbeiträge müssen die Sparer hier berappen. Doch nicht überall laufen die Sparklubs gut, anderswo müssen sie schließen – im nahegelegenen „Silbersack“ wurde die Kasse dicht gemacht, auch im „Nobiskrug“ sind viele Fächer heute leer. Woran das liegt? „Na ganz einfach, die Kneipen sterben aus, es kommen weniger Leute, die schon tagsüber da rumhängen“, sagt Ernie.

Trend hin oder her: Die Kneipenkultur auf St. Pauli ist heute eine andere, die neue Popularität der Sparklubs vor allem ein Zeichen von Nostalgie. Das musste auch der Hamburger Regisseur Christian Hornung erfahren, der die Hamburger Sparklubs in seinem Dokumentarfilm „Manche hatten Krokodile“ porträtiert hat. „Die Mitglieder der Sparklubs stehen für eine Generation, die langsam ausstirbt. Für die alten Seeleute, Ex-Prostituierten oder Transen auf dem Kiez sind die Sparklubs auch so etwas wie ein Bindeglied ihrer Gemeinschaft“, sagt Hornung.

In der „Holstenschwemme“ wird weitergespart: Die Fächer im grünen Sparkasten sind so begehrt, dass Wirt Ernie schon eine lange Warteliste führen muss. „Wir können ja nicht schon wieder ’nen neuen Kasten kaufen“, grummelt er.

Premiere „Manche hatten Krokodile“: Do, 10. November, 20 Uhr, Abaton

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