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Hochschul-Dozent trotz Förderschulabschluss

INKLUSION Durch die Schaffung eines neuen Instituts in Schleswig-Holstein qualifiziert das Projekt „Inklusive Bildung“ Menschen mit Behinderung für das Hochschullehramt

von Esther Geißlinger

Isabell Veronese rutscht in ihrem Rollstuhl hin und her. „Ich bin froh, wenn ich heute Abend zu Hause bin“, gesteht sie. Nicht dass sie Lampenfieber hätte, weil sie, die eine Sprachstörung hat, gleich vor einigen Dutzend Menschen sprechen muss. Die 30-Jährige ist öffentliche Auftritte gewohnt, sie hat schon vor Hunderten Studierenden Vorlesungen gehalten. Aber ihr sitzen ihre jüngst abgeschlossenen Prüfungen noch im Nacken.

Zusammen mit Horst-Alexander Finke, Marco Reschat, Laura Schwörer und Samuel Wunsch hat Isabell Veronese nach dreijähriger Ausbildung ein Zertifikat erhalten, mit dem sie sich nun „Bildungsfachkraft“ nennen darf. Hinter diesem Begriff versteckt sich eine kleine Sensation. Denn die fünf weltweit ersten „Bildungsfachkräfte“ waren vor Beginn ihres Lehrgangs in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung tätig, ihr Bildungsweg endete mit dem Förderschulabschluss.

Nun werden sie an Hochschulen unterrichten. Um das zu ermöglichen, hat das Land Schleswig-Holstein eigens ein neues Institut gegründet. In Kiel feierten die Beteiligten den Abschluss des Projekts „Innovative Bildung“ und den Start des gleichnamigen Instituts.

„Oh je, das klingt verrückt“: Ziemlich genau diesen Gedanken habe sie gehabt, als sie zum ersten Mal von dem Plan hörte, gestand Kirsten Diehl, Professorin am Institut für Sonderpädagogik an der Universität Flensburg. Denn aus rechtlicher Sicht ist es fast unmöglich, Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen als Dozenten an Hochschulen zuzulassen. Schließlich gilt der Grundsatz, dass die Lehrenden einen höheren Abschluss haben müssen als die Lernenden.

Gleichzeitig aber berge das Projekt ganz neue Möglichkeiten, schwärmt Ilka Parchmann, Professorin und Vizepräsidentin der Christian-Albrechts-Universität Kiel mit Schwerpunkt Lehramt und Wissenstransfer. „Es ist eine tolle Chance, direkt von selbst Betroffenen etwas über Behinderung zu erfahren.“

Denn das ist die Idee hinter dem Projekt, das von der Stiftung „Drachensee“, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, auf den Weg gebracht und organisiert wurde: Studierende, gerade in den Lehramts- oder sozialpädagogischen Fächern, werden später mit Menschen mit Behinderung arbeiten, werden Gutachten über sie schreiben und damit ihren Lebensweg mitbestimmen. Doch in ihrer Ausbildung treffen sie Betroffene bestenfalls einmal im Rahmen eines Praktikums, nie aber als gleichberechtigte Gesprächspartner. Eben das ändert das Projekt.

Denn die Bildungsfachkräfte stricken ihre Lehrveranstaltungen um die eigenen Lebensgeschichten herum, beziehen ihre Erfahrungen ein. So gibt es das Modul „Lebenswege“, in dem Studierende und Dozierende sich über prägende Erlebnisse austauschen. Offenheit gehört dazu, wenn etwa Horst-Alexander Finke, mit 52 der Älteste der Dozenten-Gruppe, über seine Schulzeit berichtet: „Sie haben mich ausgelacht und Sonderling genannt.“ Andere aus dem Dozenten-Team erzählen von dem Knacks am Selbstbewusstsein, wenn Fachleute über sie hinwegreden. Für die Studierenden ist das meist ein Aha-Erlebnis.

Trotz der sehr persönlichen Inhalte – die Vorlesungen, Seminare oder Workshops der Bildungsfachkräfte sind „hochprofessionell“, lobte Birgit Brouër, Professorin am Institut für Pädagogik und Zentrum für Lehrerbildung an der Kieler Universität. Sie hatte die Gruppe, die damals erst ein gutes Jahr in der Ausbildung war, zu einer Vorlesung vor Erstsemestern eingeladen: „Vor 350 Personen auf den Rängen zu sprechen, traut sich nicht jeder“, sagte Brouër. Die Gruppe habe die Aufgabe scheinbar mühelos und wunderbar gelöst. Das bestätigt Laura Schwörer, die das Asperger-Syndrom hat: „Wir sind gewachsen.“

Ilka Parchmann freut sich, dass das Projekt für die Uni ein wichtiger Baustein bei der Umsetzung der Behindertenrechts-Konvention sei. Dass es über den Umweg des angegliederten, rechtlich unabhängigen Instituts gelungen sei, auch die Finanzierung des Projekts zu regeln, sei „das Sahnehäubchen“. Normalerweise werden An-Institute gegründet, um innovatitve Forschung einzubinden. Dass es jetzt ein solches Konstrukt für die Lehre gibt, sei einmalig. „Aber ich bin sicher, dass sich auch Forschung aus dieser Zusammenarbeit ergeben wird.“

Politischen Rückenwind gab es von Staatssekretär Rolf Fischer. Der SPD-Politiker hat die Idee von Anfang an begleitet, „weil es wenig Dinge gibt, die so innovativ und kreativ sind“. Durch einen Wechsel in der Zuständigkeit waren gleich zwei Ministerien, Bildung und Soziales, damit befasst, die zahlreichen rechtlichen und formalen Probleme zu lösen. Für die kommenden drei Jahre macht das Land die stattliche Geldsumme von 1,25 Millionen Euro locker. Aus diesem Betrag wird das An-Institut finanziert. Neben den Gehältern der fünf Bildungsfachkräfte müssen deren Assistenzen bezahlt werden. Dazu gehört auch ein Fahrdienst: Die fünf werden nicht stationär tätig sein, sondern im Land herumreisen. Bereits jetzt gehören dem Projekt neben der Christian-Albrechts-Uni 25 weitere Hochschulen, Bildungsinstitute und Einrichtungen an.

So machen allein in Kiel die Fachhochschule, die Muthesius-Kunsthochschule und die Regionale Berufsschule mit. In Neumünster ist das Berufsbildungszentrum Elly-Heuss-Knapp-Schule mit dabei. Auch das Institut für Qualitätsentwicklung, das für Lehrerfortbildung zuständig ist, gehört zu den Netzwerkpartnern. Denkbar sind neben den regulären Vorlesungen auch Workshops, etwa in Firmen. Fischer geht davon aus, dass die Finanzierung über die ersten drei Jahre hinaus fortgesetzt wird: „Sonst bringt es ja nichts.“ Für den Fall, dass es dann doch nicht weitergeht oder einzelne der Bildungsfachkräfte sich überfordert fühlen, haben sie ein Rückkehrrecht auf ihre Werkstattplätze.

„Eine tolle Chance, direkt von selbst Betroffenen etwas über Behinderung zu erfahren“

Ilka Parchmann, Vizepräsidentin der Christian-Albrecht-Universität Kiel

Das ist normalerweise schwierig, denn Werkstatt-Beschäftigte gelten als nicht voll erwerbsfähig. Zurzeit sind die Bildungsfachkräfte aber in Vollzeit am Institut angestellt. Dass sie ihren Werkstatt-Status nicht verlieren, ist ein Zugeständnis, aber eines, dass die Mitglieder der Gruppe sehr beruhigt, wie Samuel Wunsch sagte.

Es gab Gegner des Projekts, auch darauf wiesen Redner bei der Zertifikatsverleihung hin. Unter anderem in der wissenschaftlichen Welt fanden einige es ungerecht, dass ein Dozentenrang plus sichere Stelle ohne wissenschaftliche Leistung sozusagen „verschenkt“ wird. „Die Frage sollten wir ausklammern“, sagte die Flensburger Professorin Kirsten Diehl. „Es geht darum, innovativ etwas zu probieren.“

Ulrich Hase, Schleswig-Holsteins Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung, lobte alle Beteiligten: „Ihr habt das Unmögliche geschafft.“ Dass es gelungen sei, durch Fortbildung und Training Menschen aus der meist eher simplen Werkstatt-Arbeit an ein Uni-Pult zu bringen, sei ein Hinweis, dass „wir dieses System kritisch betrachten müssen“. Sicher sei die Idee am Anfang verrückt gewesen, aber „nur so können wir etwas ver-rücken“.

Im Zentrum des Projekts stand anfänglich der Qualifizierungskurs, den die Stiftung „Drachensee“ eigens für die Gruppe entwickelt hat. Nun soll, zumindest in Schleswig-Holstein, kein weiterer Jahrgang folgen, der die Ausbildung durchläuft.

Jan Wulf-Schnabel von der Stiftung „Drachensee“ und Geschäftsführer des neuen Instituts für Inklusive Bildung hofft aber, dass das Projekt von anderen übernommen wird: „Es gibt Nachfragen aus der ganzen Republik.“ Und darüber hinaus: Die fünf Bildungsfachkräfte stellten sich und ihre Arbeit auch schon in Manchester vor.

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