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Von einem auf stolze 54 Sitze

Litauen Die Parlamentswahl in dem baltischen Staat hat der Bund der Bauern und Grünen klar gewonnen. Den Koalitionspartner kann sich die Partei jetzt aussuchen

Von Reinhard Wolff

STOCKHOLMtaz| Mit einer handfesten Überraschung sind die Parlamentswahlen in Litauen zu Ende gegangen. Weder die regierenden Sozialdemokraten noch die größte Oppositionspartei, die konservative Vaterlandsunion, konnte die Wahlen gewinnen. Vielmehr steht nach der zweiten Wahlrunde und der Vergabe von 68 Direktmandaten in Wahlkreisen ohne absolute Mehrheit fest, was sich schon bei der ersten Wahlrunde am 9. Oktober abzeichnete: Der Bund der Bauern und Grünen (LGPU) ist stärkste politische Kraft im Baltenstaat.

Mit gerade einem Sitz war diese Partei in der bisherigen Seimas vertreten. Nun konnte sie mit 54 der 141 Mandate rund 40 Prozent der Parlamentssitze erobern. Ihr Spitzenkandidat, der 46-jährige Saulius Skvernelis, dürfte mit der Regierungsbildung beauftragt werden. Möglich wäre sowohl eine Koalition mit den Konservativen, die mit 31 Sitzen zweitstärkste Partei wurden, als auch mit den Sozialdemokraten, die statt 38 nur noch 17 Mandate bekamen.

„Die Regierungsparteien erhalten bei uns ja wirklich nie neues Vertrauen“, klagte der scheidende Ministerpräsident Algirdas Butkevičius, der das Land an der Spitze einer Mitte-links-Koalition geführt hatte. Mit jeder neuen Legislaturperiode wird die bisherige Regierung in die Wüste geschickt.

Doch die deutliche Niederlage hat sich seine Regierung selbst eingebrockt. Die Butkevičius-Koalition war vor vier Jahren mit dem Versprechen auf ein Ende der Sparpolitik angetreten. Löhne und Renten sollten kräftig erhöht und ein neues progressives Steuersystem eingeführt werden. Doch bis auf eine Erhöhung des Mindestlohns blieben die meisten Versprechen auf der Strecke. Einen Großteil der eigenen Basis hatte sich die Regierung dann mit einem neuen Arbeitsgesetz ganz im Interesse der Unternehmer verscherzt: mit längerer Arbeitszeit, weniger Urlaubstagen und kürzeren Kündigungsfristen. Ein Gesetz, das sogar die konservative Staatspräsidentin Dalia Grybauskaitė als unsozial und „extrem neoliberal“ kritisierte.

„Zu hören waren nur Allgemeinplätze. Es fehlen konkrete Lösungsvorschläge“

Kęstutis K. Girnius

Der Erfolg der LGPU dürfte vor allem darauf beruhen, dass die Partei mit ihrem Vorsitzenden Ramūnas Karbauskis, einem erfolgreichen und populären landwirtschaftlichem Unternehmer, bei der Landbevölkerung punkten konnte. Zugleich erwiese sich die Wahl ihres Spitzenkandidaten als gelungener Schachzug. Der mutmaßliche künftige Ministerpräsident Skvernelis ist parteilos, arbeitete seit 1998 erst als einfacher Polizeibeamter und wurde 2011 zum Polizeichef ernannt. Er machte sich vor allem mit der Bekämpfung der Korruption einen Namen. Vor zwei Jahren hatte ihn Butkevičius als Innenminister in sein Kabinett berufen. Seine Botschaft, das Land brauche einen Richtungswechsel und einen Neuanfang, kam offensichtlich an.

Als Litauens brennendste Probleme hat die EU-Kommission die Abwanderung von Arbeitskräften und das dünne soziale Netz festgemacht, das ein hohes Armutsrisiko birgt. Seit 1990 ist die Bevölkerung um mehr als ein Drittel auf 2,89 Millionen geschrumpft, Litauen ist das EU-Land mit der am schnellsten alternden Gesellschaft. „Die Bevölkerungszahlen sind wohl der beste Gradmesser für die Unzufriedenheit im Lande“, meint Kęstutis K. Girnius, Politikwissenschaftler an der Universität Vilnius: Sie demonstrierten, dass vor allem junge Leute dort keine Zukunft sähen. Alle Parteien versprachen mehr Wachstum und neue Arbeitsplätze. „Aber zu hören waren nur Allgemeinplätze“, konstatiert Girnius. „Es fehlt an konkreten Lösungsvorschlägen.“

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