: Maximale Irritation
Inklusion Wie ist es mit der Inklusion in der Arbeitswelt bestellt? Das Berlin-Ressort der taz hat ganz eigene Erfahrungen gemacht: Makaya Dilger (15) kam als Schülerpraktikantin, hat uns erstaunt – und verunsichert
Text Manuela HeimFoto Joanna Kosowska
Als Makaya das erste Mal in der Konferenz sitzt, in der wir jeden Mittwoch die Themen für die nächsten Wochen besprechen, wird die Irritation mit Händen greifbar, erfüllt die Luft des kleinen Konferenzraums. Makaya meldet sich zu Wort. Sie trägt ihre Ideen zu einer Essay-Reihe vor. Wahrscheinlich. Speichel erstickt ihre Stimme, Makaya kann nicht schlucken. Als sie fertig ist, wird es still. Denn keiner hat verstanden, was sie gesagt hat.
Wir haben schon eine Stunde getagt, müssen zur nächsten Konferenz und Artikel schreiben, die morgen im Blatt sein sollen. Wir haben keine Zeit nachzufragen. Und wir haben nicht die Chuzpe, das zu sagen, weil wir „political correct“ sein wollen und niemanden wegen seiner Behinderung diskriminieren. Wir schreiben über Behinderung, wir behindern doch nicht! Die Stille ist Zeichen maximaler Irritation. JedeR bleibt bei sich, manche irritiert über die eigene Unsicherheit.
„Da müssen wir was zu machen“, sagt der Redaktionsleiter später. Da hatte die Schülerin unsere Redaktion bereits wieder verlassen. Eine dieser Schüler-PraktikantInnen um die 15 Jahre, die mal zwei Wochen reinschnuppern, die mitlaufen, im Hintergrund. In der Regel ohne weitere Vorkommnisse, ohne große Erinnerung.
Mit Makaya ist es anders. Sie hat eine sehr vordergründige körperliche Behinderung, die schnelle Alltagskommunikation unmöglich macht. Deshalb verläuft ihr Praktikum anders als üblich und deshalb gibt es diesen Artikel.
Kein leichter Job so ein Text, die Autorin dieser Zeilen ist hin- und hergerissen. Her, weil jedes Schreiben über Menschen, nur weil sie eine Behinderung haben, die Selbstverständlichkeit von Gleichberechtigung in Frage stellt. Hin, weil es ignorant ist, in der Arbeitswelt von Gleichberechtigung auszugehen.
Berlin hat so wenig Arbeitslose wie seit 25 Jahren nicht mehr? Stimmt. Aber Menschen mit Schwerbehinderung profitieren davon kaum. Sie werden häufiger und länger arbeitslos als Menschen ohne Schwerbehinderung (siehe Kasten). Die Ursachen dafür liegen schon im Grundsätzlichen.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der es für Menschen mit starker Behinderung nach wie vor ein Projekt besonderer Anstrengung ist, einen regulären Schulabschluss zu machen oder eine Ausbildung oder ein weiterführendes Studium. In der wir noch immer darüber diskutieren, ob neu gebaute Arbeitsplätze wirklich barrierefrei sein sollten. In der wir die Ausgrenzung von Menschen jeden Alters aus der sogenannten Mehrheitsgesellschaft hinnehmen, als wäre sie unveränderbar. Und in der eine Praktikantin mit starker Beeinträchtigung eine besondere Irritation im Arbeitsalltag in einer Redaktion ist.
Von „Scheinakzeptanz“ spricht eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2013: Auf verbaler Ebene werde, gerade im links-grünen Milieu, Menschen mit Behinderung besonderes Wohlwollen entgegengebracht und ihr Wunsch nach beruflicher Integration unterstützt. Aber auf der Verhaltensebene finde dieses Wohlwollen keine Entsprechung. Oft, auch das muss man sagen, aus Mangel an Gelegenheiten. 2014 befragte die Bertelsmann-Stiftung Unternehmen, die keine Menschen mit Behinderung ausbilden, über die Gründe: Fast 90 Prozent gaben an, sie bekämen überhaupt keine entsprechenden Bewerbungen.
Aber Makaya hat sich beworben bei der taz und wir bekamen Gelegenheit, unser Wohlwollen auf den Prüfstand zu stellen.
An ihrem zweiten Praktikumstag kommt Makaya mit zu einer Pressekonferenz über Barrierefreiheit, auch hier meldet sie sich zu Wort. Sie geht auf eine Förderschule für Körperbehinderte, hat eine Freundin im Rollstuhl und davon erzählt sie auch. In der Pressekonferenz aber geht es um Komplexes, um eine Bauordnung, die in Kürze beschlossen werden soll, obwohl sie die Stadt in Sachen Barrierefreiheit um Jahre zurückwirft. Die persönliche Schilderung einer 15-Jährigen Schülerin tut da nichts weiter zur Sache. Aber alle hören Makaya zu, hängen an ihren Lippen, um besser zu verstehen; zwei der Referenten geben Antwort.
„Plötzlich wird man selbst zu Show“, erzählt auch eine Kollegin, die Makaya mit auf einen Termin genommen hatte. Integrationssenatorin Dilek Kolat wollte Sparkassen besuchen, die Konten für Flüchtlinge einrichten, doch ein paar Momente lang drehte sich alles um die Praktikantin: „Möchtest du dich hinsetzen?“ – „Nein, lieber ein Stuhl mit Armlehnen.“ – „Möchtest du auch eine Frage stellen?“ Die Anwesenden überboten sich im Integrationsbemühen. „Makaya hat der Senatorin die Show gestohlen“, berichtet die Kollegin.
Makaya ist mutig, sie traut sich. Vermutlich ist es für sie gar kein Sichtrauen, sondern Selbstverständlichkeit. Selbstverständlich, dass ihr der Assistent, der sie jeden Tag begleitet, das Mittagessen auf unserem Redaktionssofa über einen Schlauch direkt in den Magen gibt. Selbstverständlich, dass sie für die Treppen, die Wege zu Terminen länger braucht. Selbstverständlich, Dinge zu wiederholen, wenn sie nicht verstanden wird. Für sie ist unsere Irritation eine Chance, sich Gehör zu verschaffen. Hinein zu sprechen in die Stille, die aus dem Ringen um das korrekte Reagieren entsteht. Makaya scheint uns einiges zuzutrauen.
Für uns ist das alles andere als selbstverständlich. Nur zwei Menschen mit behördlich festgestellter Schwerbehinderung arbeiten beim taz-Verlag, 12 müssten es laut der Beschäftigungspflicht des Sozialgesetzbuch IX sein. Damit befindet sich die taz in zahlreicher Gesellschaft: Über 40 Prozent der Pflichtarbeitsplätze für Schwerbehinderte (siehe Kasten) sind in Berliner Unternehmen mit vergleichbarer Größe unbesetzt.
Die Gründe? Im Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg, gleich um die Ecke von der taz, ist Harald Beerbohm als Teamleiter für die Beratung von Menschen mit Schwerbehinderung zuständig. „Es gibt immer noch Unternehmen, die lieber eine Ausgleichsabgabe zahlen, als Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen“, sagt er.
Deshalb versuche sein Team mit potenziellen Arbeitgebern zu reden, Vorurteile abzubauen, über Möglichkeiten der Eingliederungshilfe (siehe Kasten) zu informieren und bei der Bewältigung der Bürokratie zu helfen. Das koste Zeit, häufig auch viel Geduld bei den Arbeitssuchenden. Trotzdem gebe es einen kleinen Aufwärtstrend, sagt Beerbohm. „Viele unserer Klienten treten auch deutlich selbstbewusster auf als noch vor ein paar Jahren“.
Darüber, warum in der taz so wenige Menschen mit Schwerbehinderung arbeiten, lässt sich indes nur spekulieren. „Daran, dass wir sie nicht einstellen würden, liegt es sicher nicht“, sagt Geschäftsführer Andreas Bull. Zumindest aber die räumlichen Gegebenheiten sind nicht eben günstig: Im derzeitigen Redaktionsgebäude in der Rudi-Dutschke-Straße 23 ist nur jede zweite Etage barrierefrei erreichbar. Der Fahrstuhl ist ein Modell aus dem Jahr 1968 mit Zugang im Hinterhof, direkt bei den Mülltonnen. Immerhin wird gerade am neuen Redaktionsgebäude in der Südlichen Friedrichstadt gebaut, im Mai 2018 soll es fertig sein – am Freitag wurde Grundsteinlegung gefeiert.
Und diesmal wurde schon vor Fertigstellung des Rohbaus freiwillig das Gutachten einer Sachverständigen für barrierefreies Bauen eingeholt. Jede Etage wird mit dem Rollstuhl erreichbar sein, es soll Orientierungshilfen für Menschen mit Sinnesbehinderungen geben, und es gibt mehr als nur ein Klo, in das auch ein Rollstuhl reinpasst. „Das alles schafft mehr Möglichkeiten“, sagt Andreas Bull.
„Wie schnell wir sind“
Aber zurück zu Makaya: „Mir ist erst aufgefallen, wie schnell wir sind in den Konferenzen, in Gesprächen auf dem Gang“, sagt eine Kollegin in Erinnerung an die zwei Wochen mit der Schülerpraktikantin. „Und wie wenig Geduld ich manchmal habe.“ Diese Geduld wird diktiert von der Schnelligkeit der Redaktionsabläufe.
Die zwei Wochen mit Makaya haben auch ein paar Grenzen des Möglichen abgesteckt. Die Anforderungen, die wir uns im tagesaktuellen Lokaljournalismus auferlegen, lassen sich über ein Praktikum hinaus kaum vereinbaren mit starken Beeinträchtigungen der Kommunikation oder Motorik. Aber auf diese Weise gezwungen zu werden, es überhaupt als möglich zu betrachten, war wichtig. Und so sind wir nach zwei Wochen mit Makaya zwar noch weit weg von Selbstverständlichkeiten. Aber wir haben uns ein klein wenig gewöhnt an die eigene Irritation. Und an den Mut, den Makaya uns zugemutet hat.
Manuela Heim
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