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„Wir sind der erste Kulturort nach dem BER“

Jubiläum IIDas Radialsystem V wurde vor zehn Jahren eröffnet, heute beherbergt es Tanztheater, Konzerte und Konferenzen. Janina Paul und Folkert Uhde aus dem Leitungsteam über Ökonomie, Konzertdesign, Frauenmangel und die Gentrifizierungsfalle

Ein flexibles System, offen für Experimente: die große Halle im Radialsystem Foto: Reinhard Görner

Interview Franziska Buhre

taz: Frau Paul, Herr Uhde, wie haben Sie die Zeit kurz vor Eröffnung des Radialsystems V vor zehn Jahren erlebt?

Folkert Uhde: Ich bin gar nicht zum Nachdenken gekommen, weil ich so in Action war, total übermüdet und auf Adrenalin. Sasha Waltz hat mit ihren Tänzern in einer Baustelle geprobt, der Fußboden war erst drei Tage vor der Eröffnung drin. Das Licht war provisorisch, wir hatten auch noch keine Küche, kein Lager, keine funktionierende Bar. Die Stühle waren zwar bestellt, aber noch nicht da, vom Haus der Kulturen der Welt haben wir uns Stühle und Luftmatratzen ausgeliehen. Die PA haben wir bei der Auflösung vom Tränenpalast gebraucht ersteigert, sie musste noch eingebaut werden.

Janina Paul: Es gab vorher ja kaum Planungszeit, wir hatten das Haus zwei Monate zuvor gemietet, und alles ist dann im Tun entstanden. In unserem kleinen Team hat jeder alles gemacht, wir mussten gleichzeitig die Baustelle im Blick behalten, uns um Einlasspersonal für die Eröffnung kümmern und darum, wie die Leute dann überhaupt etwas zu trinken bekommen. Erst wenige Tage vor der Eröffnung hatten wir ein Ticketingsystem und eine provisorische Website.

Uhde: Auf wundersame Weise hat es dann trotzdem geklappt, und es kamen wahnsinnig viele Leute. Schon im Herbst 2006 fand im Radialsystem eine große kulturpolitische Veranstaltung vom Auswärtigen Amt statt.

Paul: Daraus ergab sich, dass auch andere Ministerien für Konferenzen angefragt haben. Und seitdem vermieten wir nicht nur die Räume, sondern bieten auch unser Know-how in der Planung, der Technik, beim Catering und beim Personal an. Mit der Zeit haben wir einen für uns wichtigen Kundenstamm gewonnen, wovon das Radialsystem finanziell lebt.

Wie stellten Sie sich den Betrieb des Radialsystems zu Anfang vor?

Uhde: Wir haben begonnen mit dem starken Schwerpunkt auf Tanz und Musik und haben uns gewünscht, ein Gebäude zu haben, wo die Compagnie Sasha Waltz & Guests eine Heimat finden kann. Dann hat sich das Radialsystem sehr stark entwickelt in Richtung neue Konzertformate, nicht nur aus praktischen und finanziellen Gründen, sondern auch, weil es dort einen besonderen Innovationsbedarf gab. Wir sind finanziell darauf angewiesen, das Haus unter der Woche so oft wie möglich für Konferenzen zu vermieten. Es hat lange gedauert, eine Balance zwischen den Vermietungen und den künstlerischen Projekten zu schaffen.

Welche Konditionen bieten Sie künstlerischen Projekten?

Paul: Bei allen geförderten künstlerischen Veranstaltungen operieren wir mit einem Gesamtpaket. Dem liegen die Raumkosten von 1.600 Euro pro Tag für die Halle zugrunde, dazu kommen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Basisausstattung an Technik und Personal. Ein Probenraum in einem der Studios kostet 200 Euro am Tag, Sasha Waltz & Guests haben das Studio A an 365 Tagen im Jahr gemietet, und fast jeden Tag wird es genutzt.

Uhde: Bis heute gibt es in Berlin kein Haus, das so flexibel ist. Wir können es in jede Richtung bespielen. Der Raum ist eine starke Setzung, kann aber völlig unterschiedlichen Charakter einnehmen, das ist für viele Künstler inspirierend.

Zehn Jahre Radialsystem

Das Radialsystem V wurde am 9. September 2006 mit der Produktion „Radiale Systeme“ von der Tanzcompagnie Sasha Waltz & Guests eröffnet. Das Gebäude am Spreeufer besteht aus dem historischen Pumpwerk von 1905 und einem Neubau des Architekten Gerhard Spangenberg. Die Radialsystem GmbH, 2005 von Folkert Uhde und Jochen Sandig gegründet, ist Mieterin und Betreiberin des Hauses.

Zum zehnjährigen Bestehen veranstaltet das Radialsystem ein Forum mit Experten aus Medien, Wissenschaft, Kulturmanagement, Akteuren der Kreativszene und Stiftungsvertretern. Themen sind unter anderem Kulturförderung, Chancen und Risiken der Globalisierung, demografische Entwicklung und Evaluation im Kulturbereich: „Kultur der Zukunft: 10 Herausforderungen“ am Montag, 5. September, 10–17 Uhr. Eintritt frei, Anmeldung erforderlich unter www.radialsystem.de/forum

2013 hat Sasha Waltz ihr festes Ensemble aufgelöst. Was bedeutete dieser Schritt fürs Radialsystem?

Uhde: Danach sind sehr viele Projekte, auch im Musikbereich, entstanden. Sasha Waltz & Guests verstehen sich ja als Kollektiv, und Menschen, die aus der Kompanie kamen, haben eigenständige Projekte in unterschiedlichen Konstella­tio­nen entwickelt. Wir arbeiten kontinuierlich und langfristig mit sehr vielen freien Ensem­bles zusammen.

Herr Uhde, inwiefern ist der Begriff Konzertdesign, den Sie geprägt haben, mit der Entwicklung des Radialsystems verknüpft?

Uhde: Ohne diesen Ort wäre ich nicht auf den Begriff Konzertdesign gekommen. Für mich war der größte Lernprozess, dass die Musik, mit der ich aufgewachsen bin, nicht steif sein muss, peinlich und uncool. Sondern, dass diese Substanz unendlich viele weitere Möglichkeiten der Annäherung bietet. Vor zehn Jahren war das ein Gefühl, aber die Menschen suchen selber mehr danach. Es gibt in dem Feld einen immensen Experimentierbedarf, da sind wir noch lange nicht am Ende.

Sie veranstalten zum zehnjährigen Bestehen des Radialsystems ein Gesprächsforum zur Kultur der Zukunft. Dafür haben Sie zehn Herausforderungen formuliert. Welche davon ist Ihnen besonders nahe?

Uhde: Ich persönlich finde die Diskussion über Kultur in den Medien, vom Leit-Medium zum Like-Medium, sehr spannend. Also die Fragen danach, wie man als Akteur oder Produzent Aufmerksamkeit generieren kann, wie Öffentlichkeit entsteht und wie man sich strategisch dazu verhalten kann. In welchem Stadium dieser Prozess ist, weiß keiner so genau, aber da verschieben sich die tektonischen Platten total.

Von den 42 zum Forum eingeladenen Experten sind nur zwölf Frauen, und alle Mitwirkenden sind Weiße. Ist Diversität für Sie kein Thema?

Foto: Sebastian Bolesch
Janina Paul, Folkert Uhde

Janina Paul war während ihres BWL-Studiums in den 1990er Jahren in den Hackeschen Höfen in der Projektentwicklung aktiv. 2001 gründete sie die B.I.R.N.B.A.U.M. Kulturlogistik GmbH, mit der sie zahlreiche Kultur- und Stadtentwicklungsprojekte realisiert hat. Mit dem Radialsystem V ist Janina Paul bereits seit der Gründung verbunden. Seit 2014 verantwortet sie als Geschäftsführerin den Bereich Produktion und Veranstaltungen.

Folkert Uhde studierte Musikwissenschaft und war bis 1995 als freiberuflicher Musiker tätig. Dann gründete er die Agentur Folkert Uhde Konzert- & Projektmanagement, er initiierte und programmierte unter anderem die Biennale Alter Musik Zeitfenster in Berlin. Neben der Entwicklung innovativer Konzert- und Musiktheaterformate für das Radialsystem liegt sein Arbeitsschwerpunkt auf TV- und Filmproduktionen.

Paul: Wir haben im Team nach möglichen Gästen gefragt, und auf vier Männer wurde eine Frau genannt. Wir hätten gerne mehr Frauen eingeladen, aber es ist uns nicht gelungen.

Uhde: Für mich ist das Thema Diversität nicht im gleichen Sinne so scharf zu fassen wie das Thema Öffentlichkeit. Mich nervt manchmal, dass man über ein Thema unbedingt reden muss.

Ein anderes Thema des Forums ist „Kunst in der Gentrifizierungsfalle“. Was meinen Sie damit?

Uhde: Wir alle als Kulturproduzenten tragen zum Touristenhype bei. Als wir anfingen, war das Radialsystem neben dem Ibis-Hotel am Ostbahnhof, und jetzt wird umgekehrt das Radialsystem zuerst genannt. Der Standort war damals für viele Menschen gefühlt so weit weg wie jetzt Köpenick. Wir hatten von Anfang an die Idee, wir stellen am BER ein Schild auf nach dem Motto, wir sind der erste Kulturort nach dem Flughafen. So weit kam es noch nicht, und es hat trotzdem geklappt.

Paul: In diesen zehn Jahren hat sich auch die Liegenschaftspolitik des Landes Berlin geändert. Inzwischen geht es wieder mehr darum, aufgrund des Drucks auf dem Immobilienmarkt Kultur­standorte auch zu sichern.

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