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Deutschlands Dämonen

Retrospektive Als die neue Demokratie instabil war wie eine liebende Frau:Das Filmfestival Locarno feierte das widersprüchliche Kino der Adenauer-Zeit

Peter Lorres Film „Der Verlorene“ von 1951 erzählt nur von einem, der Angst Foto: Filmfest Locarno

von Barbara Wurm

„Verstört beginnt man sich allerorten zu fragen, wie man denn leben solle. […] Wie einander und sich selber lebend ein Bedürfnis sein?“ – Nein, dieses Zitat ist keinem der 73 Filme entnommen, die unter dem Titel „Geliebt und verdrängt. Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963“ die diesjährige Retro­spektive (und damit das eigentliche filmische Ereignis) des Festivals in Locarno ausmachten. Vielmehr stammt es aus Peter Handkes „Chronik der laufenden Ereignisse“, einer „Allegorie vom Leben in der Bundesrepublik im Jahre 1969 oder in den vorangegangenen Jahren“. Corinna Belz’ wohltemperiertes Porträt „Peter Handke – Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte …“, das in Locarno Weltpremiere feierte, zeichnet einen pilzsammelnden, die Computerwelt verachtenden Autor, der seiner frechen Jugend ein wenig nachtrauert. Auch er war einmal Oberhausener, wenngleich keiner jener Manifestunterzeichner, die 1962 „Papas Kino“ endgültig für tot erklärten.

Dieses Kino der Ära Adenauer formierte sich unter schwierigen Umständen. Für das schöne Handke-Wörtchen „Bedürfnis“ war in den filmischen Denk- und Handlungsräumen nach der Staatsgründung kein Platz. Peter Lorres „Der Verlorene“ bringt das 1951 – mitten in der Hochblüte des Heimatfilms – in drastisch schattigem Noir auf den Punkt: Es reagiert nur eines, die Angst. Nicht zuletzt vor der (verdrängten) Wahrheit. Der eigenen (grausamen) Identität.

Im Fall des Flüchtlingslagerarztes Dr. Neumeister, den Peter Lorre selber spielt, heißt das: Vor 1945 hieß er Dr. Rothe und war ein „Totmacher“, spezialisiert auf die schizophrenste aller Gesten – den Eros und Thanatos verschmelzenden Würgegriff. Das nähert ihn der genialen Killerfigur aus einem der wenigen wirklich überzeugenden Filme des aktuellen Festivalprogramms an, Júlio Bressanes „Beduino“, pur wie ekstatisch inszeniert als erotische Spielserie in einer Meta-Mytho-Beziehung.

Wenn Olaf Möller die einzige Regiearbeit Lorres als „scharf konturiertes, klar strukturiertes Bild aus einer verschwommen-zwiespältigen Zeit der Risse“ definiert, so gilt dies allemal auch für die von ihm (mit Roberto Turigliatto) aufwändig recherchierte, präzis kuratierte und mit maximalem Einsatz (sowie weitgehend auf 35 mm) präsentierte Schau. Mario Adorf, ausgezeichnet mit einem „Leoparden für seine Karriere“, sprach gar von der Rehabilitierung jenes Kinos, das für Heimatkitsch als Geschichtsverdrängung stand.In Robert Siodmaks sinistrem Nazi-Alltags-Krimi „Nachts, wenn der Teufel kam“ gibtAdorf einen, ja, Serienwürger, in Gerd Oswalds grandiosem (auf der Piazza Grande gezeigtem) Straßen- und Jukebox-Film „Am Tag als der Regen kam“ einen „Halbstarken“. Leben meint im handwerklich so starken Adenauerland-Kino fragil-brüchige Existenzen, die immer noch mit Töten und Überleben beschäftigt sind. Glänzendes Beispiel – und für viele die Entdeckung dieser Retro: Hans Heinz Königs Horror-Heimatfilm „Rosen blühen auf dem Heidegrab“ (1952) mit einer im deutschen Moor versinkenden (zuvor körperlich und seelisch entjungferten) Ruth Niehaus.

Der Dorfnaziund der Deserteur

Doch bevölkern die Germano-Dämonen nicht nur die Filme der genannten Remigranten oder das von Kriegsheimkehrern eingeholte Heimatkino. In Wolfgang Staudtes für das damalige Filmvolk unerträglichem, weil politisch radikalexplizitem Film „Kirmes“ etwa taucht beim heiteren Karussellaufbau die Leiche eines von den Dorfnazis ermordeten Deserteurs (Götz George) aus dem Morast auf, wodurch Kollektivschuld gleich zwei Mal vorgeführt wird: 1945, als an der Mauer ein fahnenflüchtiger Wehrmachtsoldat abgeknallt wird, und 1960, als Adenauers Wahlplakat an derselben Mauer „Keine Experimente“ empfahl. Auch Helmut Käutners Meisterwerk „Schwarzer Kies“ (1960) – hier: Leichen unter jenen Steinchen, aus denen Startbahnen für die Nato-Düsenjäger gebaut werden – verursacht tiefe moralische Unruhe.

Flankiert wurden diese Regisseure von DDR-Filmen über die Bonner Republik. In Martin Hellbergs „Das verurteilte Dorf“ etwa formieren sich mehrere Nachbardörfer zu einer Sterndemo gegen den Bau einer US-Militärbasis; man weiß nicht, ob man sich grad hüben oder drüben befindet. Slatan Dudows bissige Satire „Der Hauptmann von Köln“ zieht gegen alte Nazis und neue Wiederbewaffnung ins Feld. In „Urlaub auf Sylt“ outen die Thorndikes – mit messerscharfer Klinge – den Bürgermeister als Obernazi und Karl Gass’ „Schaut auf diese Stadt“, ein unvergleichlich modernistisch-sozrealistischer Montagewurf, erklärt die Notwendigkeit der Errichtung des antiimperialistischen Schutzwalls.

Etliche animierte Kleinode – wie Hans Fischerkösens Underberg-Werbung „Durch Nacht zum Licht“ lassen die Geister (die keiner rief, aber niemand verscheuchte) in Farbe tanzen, im populären „Spukschloss im Spessart“ tauchen sie dann wieder auf, als Gehilfen.

Wirklich unheimlich wird es aber schließlich in jenen drei Melodramen (drei Frauen, drei Stars), die sich im Verlauf der so dichten wie großartigen Locarno-Retrospektive als ihr eigentlicher Kern entpuppten: Ruth Leuweriks Venedig-Flucht in „Die Rote“ (Helmut Käutner), Nadja Tillers Selbstfindungstrip in einer straff organisierten Entzugsanstalt (Rolf Thieles irrer Film „Labyrinth“) sowie schließlich Lilli Palmers schauspielernder Ausbruchsversuch aus jenem „Gläsernen Turm“ (Harald Braun), in den sie ihr Wirtschaftswunder-Magnat-Gatte als Krönung seines Erfolgs – und damit Untergangs – gesetzt hat.

An der Liebesfähigkeit der Frau wird die (In-)Stabilität der neuen Demokratie und seines luziden, ja stechenden Kinos getestet. Vom „Bedürfnis“ ist dieses aseptische „Biedermeier der Moderne“ (Möller) noch weit entfernt.

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